Blasphemy! He’s said it again! „Jerry Springer – The Opera“
Eine der schönsten Traditionen Großbritanniens sind Skandale rund um Comedians und komische Produkte. Vor allem die religiöse Rechte setzte und setzt sich sehr für den Erhalt des Brauchtums ein, schon zu trommeln und zu wehklagen, noch bevor irgend jemand etwas genaues weiß. Die Monty Pythons hatten seit der ersten Ausstrahlung des „Flying Circus“ am 5. Oktober 1969 Ärger mit Christen bzw. eben schon vorher: Denn der „Flying Circus“ erhielt, ausgerechnet, einen Sendeplatz, den zuvor eine religiöse Sendung gehabt hatte. Keine glückliche Wahl der BBC, die sich seit Mitte der sechziger Jahre mit einer gewissen Mary Whitehouse und ihrer „National Viewers‘ and Listeners‘ Association“ herumschlagen mußte.
<Abschweifung>Whitehouse, Lehrerin aus Shropshire, organisierte regelmäßig Kampagnen für „sauberes Fernsehen“ und gegen das, was sie für Pornographie und die Verletzung religiöser Gefühle hielt, und wurde, nicht zuletzt weil die Medien sie und ihre spinnerten Anliegen bereitwillig ventilierten, schnell zu einer Figur des öffentlichen Lebens. Comedians revanchierten sich auf ihre Weise, nicht zuletzt durch die Stand Up/Sketch-Show „The Mary Whitehouse Experience“ (und auch die Pornographen benannten die vormalige Schmuddelseite whitehouse.com nicht nach dem Weißen Haus, sondern nach Mary Whitehouse). Etliche recht komische Bezugnahmen auf Mary Whitehouse in der Popkultur finden sich hier; Bernard Manning kommentierte ihr Ableben im Jahre 2001 so: „She’ll be sadly missed, I imagine, but not by me.“</Abschweifung>
Auch der noch vor dem Gezeter um „The Life of Brian“ zweitgrößte Comedy-Skandal Großbritanniens funktionierte so (der größte war, nach Zählung der Sendung „50 Most Shocking Comedy Moments“ von 2006, Chris Morris‘ „Brass Eye“-Spezial über Pädophilie). Eine mächtige Welle der Empörung brach über Richard Thomas‘ und Stewart Lees Musical „Jerry Springer — The Opera“ herein: 55 000 Beschwerden erreichten BBC2 bereits vor der Sendung im Januar 2005; 8000 danach — die Fernsehversion der Jerry-Springer-Oper wurde mit 2,4 Millionen Zuschauern die erfolgreichste TV-Oper bis dahin. Die Verantwortlichen der BBC erhielten Morddrohungen, einige mußten sogar kurzfristig umziehen, um den Protesten aufgebrachter Christen zu entgehen. Vor der geplanten Tournee durch das Vereinigte Königreich übte die christliche Lobbyistengruppe Christian Voice Druck auf die Spielstätten aus, die „Jerry Springer — The Opera“ in ihr Programm aufnehmen wollten. Ein Drittel davon sprang daraufhin ab und machte die Tour beinahe finanziell unrentabel, zumal das Arts Council ihr Fördermittel verweigerte. Und das, obwohl das Stück im Londoner West End extrem erfolgreich gelaufen war, etliche Preise gewonnen hatte — und nebst allerlei anderer Prominenz Jerry Springer selbst unter den Zuschauern gewesen war, ohne hinterher vor Wut explodiert oder vor Gericht gezogen zu sein. Im Gegenteil.
Grund genug hätte er dabei gehabt, guckt man nur auf die Oberfläche: In Thomas‘ und Lees Musical wird Springer, der englischstämmige Vater aller Krawall-Talkshows, auf offener Bühne erschossen und fährt zur Hölle. Die Ausdrucksweise, der sich bereits im ersten Akt Springers Talkshowgäste befleißigt haben, ist, um es vorsichtig zu formulieren, rüde:
„My mom used to be my dad. I was jilted by a lesbian dwarf, but she gave good head. I used to be a lapdancing preoperative transsexual, a chick with a dick“
singt der Chor der Talkshowgäste, und der Kontrast zwischen ernsthafter Operninszenierung und niedrigster Gossensprache könnte komischer kaum sein. Seinen Gästen, den Windelfetischisten, Ehebrechern und Frauenhassern, ist nach ihrem Auftritt in der „Jerry Springer Show“ nichts Gutes widerfahren; Jerry begegnet ihnen im zweiten Akt in der Vorhölle wieder, wo über ihn zu Gericht gesessen wird. Nach seinem Schuldspruch landet er schließlich in der Hölle. Dort stellt Satan ihn vor eine unlösbare Aufgabe und droht Jerry damit, ihm neben dem regulären höllischen Zwicken und Zwacken auch noch einen mit Stacheldraht umwickelten Pfosten in den Arsch zu rammen, sollte er scheitern.
Die eigentliche Blasphemie ist das noch nicht, klarerweise, ich will aber nicht unfair sein: Jeder, der zwei Stunden unmotivierte Singerei auf offener Bühne aushalten kann und will (ich selbst lehne Musicals aus ästhetischen Gründen entschieden ab und habe nicht vor, nach dieser noch eine weitere Ausnahme zu machen), soll dafür wenigstens mit der gleichen komischen Wucht getroffen werden, die mich im dritten Akt minutenlang hat lachen lassen wie nicht ganz dicht — ja, ich glaube, ich habe sogar ein bißchen geweint vor Lachen. Darum werde ich die überraschende Wendung hier nicht verraten (sondern erst auf der nächsten Seite) und beschränke mich auf den Hinweis, daß (bei Amazon.uk für ganze £2,98) die DVD erhältlich und, neben einigen schönen Extras, auch mit sehr hilfreichen Untertiteln versehen ist. Die Inszenierung ist, soweit ich als Musical-Laie das beurteilen kann, tatsächlich sehr gelungen, allerdings ist der erste Akt mit 55 Minuten so lang wie der zweite und dritte zusammen und damit vielleicht ein weniges zu lang. Über Stewart Lee werde ich demnächst wohl noch ausführlicher berichten, ich gucke mich gerade durch seine beiden Stand Up-DVDs und bin jetzt schon ganz eingenommen für ihn und seine klare politische Haltung, die ihn von den meisten eher unpolitischen Stand Ups unterscheidet.
Nun also zur Blasphemie. Die Aufgabe, die Satan Jerry stellt, entpuppt sich als im wahrsten Sinne des Wortes biblisch: Jerry soll nicht nur Gott mit Satan, sondern auch Adam und Eva mit Jesus versöhnen und andere Konflikte aus der christlichen Mythologie beilegen. Jesus, Adam und Eva, die Jungfrau Maria und alle anderen biblischen Figuren sind nun aber — die Unterschichts-Gäste, der trailer trash der „Jerry Springer Show“ aus dem ersten Akt! Der farbige, stabil gebaute Windelfetischist mit Tendenz zur Homosexualität entpuppt sich als Jesus, die prüde sexfeindliche Mutter einer Möchtegernstripperin als Jungfrau Maria, der mehrfach ehebrecherische Dicke mit Faible für einen Transsexuellen als Gottvater persönlich. Alle ihre asozialen Charakterzüge stellen sich nun plötzlich in einem anderen Licht dar: Nämlich als im christlichen Glauben verwurzelte, im Letzten lebensfeindliche Einstellungen (bzw. deren polemische Karikaturen). Daß aber diese, daß am Ende alle menschlichen Konflikte bereits im Wesen des Menschen angelegt sind, ist die finale höhere Erkenntnis, die auch Jerry Springer rehabilitiert: Er ist möglicherweise für die Zuspitzung dieser Konflikte in seiner Show verantwortlich, nicht aber für die Konflikte selbst. Und so rettet ihn sein Plädoyer, kurz bevor er in den Höllenschlund versenkt wird: „Haven’t you heared about yin and yang? Love, hate, attraction, repulsion — it’s the human condition we’re talking about here! Energy is pure delight, nothing is wrong and nothing is right and everything that lives is holy and, in conclusion: fuck you. Fuck you all!“ Damit konnte Springer, der echte, wohl gut leben — und das sollten auch die christlichen Schrumpfköpfe. Es wird ihnen auch kaum etwas übrig bleiben.
Also ich lehne Musicals auch grundsätzlich ab. Zumindest alles ab Andrew Lloyd Webber. Aber ich bin einmal im Leben doch hingegangen, und das waren die „Producers“ von Mel Brooks, in New York. Und ich muss sagen, das war toll, und wirklich sehr witzig. Ich habe selten so gelacht wie an dem Abend. Ich glaube, es gehört zum Besten, was Mel Brooks je gemacht hat. Und eine super professionelle Aufführung, gute Musik (in meinen Ohren eine Kopie alter amerikanischer Musik aus den Zwanzigern, aber sehr gut gemacht und gespielt, nicht so ein Gesülze wie das Zeug von Webber u.ä.)
Aber man muss es wohl auch live sehen. Der Film mit Matthew Broderick ist leider längst nicht so gut.
Jetzt gibt’s das ja auch in Deutschland, aber mir schwant nix Gutes.
nich aus den Zwanzigern, das is ja Quatsch, aber eben so wie die alten Musicals. Die wo noch gut waren! Find ich!
Stimmt, an „The Producers“ hatte ich nicht gedacht. Ich würde es ja am liebsten mal in der Fassung mit Larry David sehen!
In diesem Zusammenhang sei auch noch unbedingt an die Comic Operas von Gilbert and Sullivan erinnert: The Pirates of Penzance, H.M.S. Pinafore, The Mikado, The Yeomen of the Guard usw., vierzehn im Ganzen. Mag nicht jedermanns Geschmack sein, stellt aber alles in den Schatten, was hierzulande gemeinhin als komische Oper gilt. Es gibt ein DVD-Set mit Produktionen der BBC von 1982/83, das ich jedem ans Herz legen würde, der auch mal etwas anderes als Serien sehen will. Und Stephen Sondheims Musicals – – aber davon vielleicht ein andermal.
This show really pissed a lot of people off. Great!