In der Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung von letzter Woche haben die FAZ-Konservativen, allen voran Volker Zastrow und Florentine Fritzen, eine Debatte angestoßen, die zum Glück auf ein verhaltenes Echo in den Medien gestoßen ist: Das FSK 12-Siegel für Filme sei jugendgefährdend, viele für sie freigegebene Filme seien gar nichts für Zwölfjährige (als ob die FSK-Freigabe eine Altersempfehlung darstellte!), insbesondere die Darstellung von Brutalitäten in Filmen wie „Van Helsing“, „There Will Be Blood“ und „Abbitte“ gingen weit über das hinaus, was den armen Kleinen zuzumuten sei. Dreieinhalb Seiten räumte die FAS für die „Expedition in die Abgründe des Jugendschutzes“ frei, um „von all den miesen, fiesen, grauenhaften Filmszenen, der Fäkal- und Gossensprache, die unsere Freiwilligen Selbstkontrolleure Kindern und Jugendlichen zumuten“ zu berichten, darunter die halbe Titelseite und die erste Doppelseite; wenn man das große Interview mit Roland Koch zum Thema „Konservativ“ dazuzählt, sogar nochmal zwei Seiten mehr. Ganz ausführlich wurden da zwölf Filme und ihre grausamen/ekligen/obszönen Details beschrieben, eine Schwarze Liste erteilte 46 von 100 Filmen die „rote Karte“, u.a. dem „Herr der Ringe — Die Gefährten“.
Die Filmbeschreibungen lasen sich dann so:
„Van Helsing“: Ein Vampir-Shredder-Film mit sehr vielen ekelerregenden Szenen. Ein paar Kostproben: Ein Mann erdolcht Dracula, Dracula holt sein Haifischgebiß heraus und beißt den Mann in den Hals, der Mann schreit. Van Helsing sägt Dr. Jekylls Arm ab, Blutz spritzt. Fliegende Vampire greifen an, Leute im Dorf schreien, Vampire lachen und verziehen ihr Fratzen mit langen Zähnen. (…) Vampir wird von Weihwasser getroffen und zerfällt unter Schreien bis auf das Skelett zu Staub. Ein Mann verwandelt sich in einen Werwolf, der Werwolf verwandelt sich zurück, reißt sich das Fell und Fleischstückchen vom Leib. (…) Kleine Vampire schlüpfen aus Kokons, grüner Schleim tropft, der dunkle Baß eines Herzschlags als Hintergrund. (…)
Eine Auflistung von Szenen, in denen Gewalt dargestellt wird (und keineswegs alle so lächerlich wie der eben zitierte Vampir-Unsinn), bietet sogar schon der Titelseitentext der FAS: „Im Film ‚Das Leben des David Gale‘ etwa kämpft eine nackte Frau, mit Handschellen hinter dem Rücken und einer Plastiktüte über dem Kopf, auf dem Fußboden vergeblich gegen den Erstickungstod. (…) Und in ‚Der fremde Sohn‘ werden kleine Jungen mit dem Hackebeil abgeschlachtet.“
Ich selbst bin aufgewachsen in einem Zimmer, über dessen Bett die Plastik eines grausam hingerichteten Mannes hing: Der Mann hatte deutlich erkennbar schmerzverzerrte Gesichtszüge, an Händen und Füßen waren ihm große Nägel durch das Fleisch getrieben, Blut lief ihm vom Kopf und aus der Seite. In dem Zimmer, in dem ich oft bei meinen Großeltern übernachtete, hing an der Wand das Bild eines anderen soeben Ermordeten: Er war, beinah nackt, an einen Baum gefesselt und von einem halben Dutzend Pfeilen durchbohrt, das Gesicht in Agonie gen Himmel gerichtet. Ach so, und bei einer Fahrt durch die Stadt Kronach in Oberfranken, wo meine Großeltern lebten, sah ich jedesmal auf dem Marktplatz vor der Kirche ein überlebensgroßes Denkmal, auf dem zwei Männer standen: ihnen war die gesamte Haut bei lebendigem Leib abgezogen und wie Mäntel über die Arme gelegt worden. So hatten die Schweden sie, zwei deutsche Botschafter, zu den ihren nach Hause geschickt.
Tja, so waren sie, die Schweden, und so war er, der Dreißigjährige Krieg: Grausam. So war das mit dem heiligen Sebastian und mit Jesus: Sie mußten schlimme Brutalitäten erleiden, die von ihren Fans später oft detailiert dargestellt wurden. Vor dem Denkmal, einer plastischen Variante des kronacher Stadtwappens, habe ich mich entschieden gegruselt, aber ansonsten (meine ich) durch Religion und Geschichte keinen großen Schaden genommen. Jedenfalls nicht durch die Darstellung dieser Grausamkeiten.
Das lag vermutlich daran, daß all die schlimmen Bilder, die ich schon als kleines Kind zu sehen bekam, in einen gewissen Kontext eingebunden waren. Grausamkeiten sind nämlich nicht einfach nur Grausamkeiten, sondern immer Darstellung von Grausamkeiten; so wie die berühmte Pfeife von Magritte keine Pfeife ist, sondern die Darstellung einer Pfeife. Und die Darstellung ist immer abhängig von allerlei äußeren Bedingungen. Ein nicht unwesentliches Detail, das die FAS, damit ihre Texte schön drastisch würden, mal eben einfach unterschlagen hat: Daß Grausamkeiten wie abgehackte Gliedmaßen, ausgestochene Augäpfel und gesprengte Köpfe in ihrer Beschreibung immer gleich sind, de facto aber auch etwa bei den „Simpsons“ vorkommen, nämlich bei „Itchy und Scratchy“, und dort nicht gerade für Entsetzen bei Jugendschützern sorgen. Jedenfalls nicht mehr.
Wie es sich mit Beschreibungen von Filmen und Serien verhält, weiß ich nun nicht zuletzt wegen dieses Blogs ziemlich genau (sondern auch, weil ich ein kleines Faible für Horrorfilme habe): WAS gezeigt wird, läßt sich leicht beschreiben. WIE es gezeigt wird, und welche Wirkung die Darstellung hat, ist aber eine völlig andere Kiste. Fast schon müßig erscheint es mir, etwa auf Märchen hinzuweisen und die in ihnen geschilderten Grausamkeiten, die kleinsten Kindern schon völlig selbstverständlich sind. Und so ist es auch bei Filmen: Sind sie erkennbare Märchen, haben sie eine völlig andere Wirkung als sagen wir mal Dokumentationen. Und was Märchen sind, wie die zum Teil gewiß schrecklichen Abenteuer funktionieren, das erkennen schon Kinder ziemlich instinktsicher. Vielleicht auch, weil Märchen sehr tief in unser kulturelles Gedächtnis eingeschrieben sind, und wir wissen, daß alle schlimmen Gefahren und Monstrositäten immer gut ausgehen (Beweis: sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage; ENDE).
Es ist also ein Griff in die verstaubtesten Tiefen der ältesten Trickkiste aller Sittenwächter, die die FAZ sich nicht zu schade ist, wieder auszumotten: Aus dem Zusammenhang gerissene Inhaltsbeschreibungen. Ein patentes Mittel aller Skandalisierer, seien es Karikaturenverbrenner in Bagdad (die oft die Karikaturen gar nicht gesehen haben, über die sie sich aufregen) oder Filmkritiker in deutschen Zeitungen (deren Leser in den meisten Fällen ebensowenig die Filme gesehen haben, über die sie sich empören [sollen]): Einfach mal den Rahmen weglassen, in dem etwas geschieht, schon hat man die schönsten Aufreger.
Vermutlich ist es kein Zufall, daß die klügsten Leserbriefe, die in der gestrigen Ausgabe zu diesem Thema zu lesen waren, von Kindern kamen:
Der Film „Slumdog Millionaire“ zeigt das sehr brutale Aufwachsen indischer Kinder. Sie halten diesen Film für zu grausam für Zwölf- bis Sechzehnjährige. Warum darf diese Altersgruppe nicht die Wahrheit über das Leben eines gleichaltrigen indischen Kindes erfahren? Ich habe „Spiderman“ und „Hangover“ gesehen, habe aber trotzdem das Gefühl, daß mich meine Eltern lieben.
Cornelius Neudeck, 13 Jahre, Gauting
Beruhigend immerhin: offenbar mußte Stefan Niggemeier nicht erst bei Volker Zastrow und der deutschen Bischofskonferenz um Erlaubnis nachfragen, bevor er in der gleichen Ausgabe der Sonntagszeitung, die diese höchst bigotte FSK 12-Debatte enthielt, begeistert „Breaking Bad“ vorstellen durfte. Oder Zastrow hatte „Breaking Bad“ einfach nicht gesehen.
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