Daisy Haggard kannte man bislang allenfalls aus „Episodes“ (Showtime/BBC2, 2011 – 17), wo sie die fabelhaft humorfreie Comedychefin des Senders spielen durfte, für den Sean und Beverly Lincoln (Steve Mangan und Tamsin Greig) mit ihrem Star Matt LeBlanc (Matt LeBlanc) arbeiteten: da fiel sie vor allem durch ihr indigniertes Knurren und ihren ablehnenden Gesichtsausdruck auf. Nun ist sie mit ihrer ersten eigenen Sitcom „Back to Life“ (BBC3, seit 15. April) in große Fußstapfen getreten: auf dem Sendeplatz von Phoebe Waller-Bridge und „Fleabag“.
Eine Tatsache, die in Großbritannien weithin Beachtung gefunden hat. Nicht nur, weil Waller-Bridge den Weg bereitet hat für die Serien anderer junger Frauen und ihren eigenen Perspektiven auf die Welt (das hat zuvor etwa Julia Davis auch schon getan), sondern weil auf den ersten Blick der Ton auch recht ähnlich ist: nämlich einer zwischen großem Pathos und Liebenswürdigkeit der Hauptfigur bei eher dunkler Grundierung der ganzen Show. Nicht zuletzt vielleicht, weil sowohl „Fleabag“ als auch „Back To Life“ aus der gleichen Produktion stammen, Two Brothers („The Missing“, „Liar“).
„Back to Life“ erzählt die Geschichte von Miriam „Miri“ Matteson (Haggard), die mit 36 aus der Haft entlassen wird, die sie 18 Jahre lang verbüßt hat, und mangels Alternativen wieder bei ihren Eltern einzieht: in einem kleinen Kaff an der Küste. Selbstverständlich weiß jeder im Städtchen bescheid über Miri und ihre Tat, und so sind die Reaktionen in der ersten Folge hauptsächlich“Oh shit“ und zugeschlagene Türen, als sie versucht, da weiterzumachen, wo sie vor 18 Jahren aufgehört hat. In ihrem Kinderzimmer hängen noch Poster von David Bowie, Prince und Jamie Oliver („Last man standing“, kommentiert ihre Mutter; sehr gut: Geraldine James), ihr Walkman ist auch noch da, und auf die Frage des ahnungslosen Nachbarn Billy (Adeel Akhtar, „woman with a beard“ in „Four Lions“) „Airb’n’bing?“ hat sie keine Antwort.
Tatsächlich geht die Story in „Back to Life“ dann darüber hinaus, wie schwierig es ist, Arbeit zu finden mit 18 Jahren Lücke im Lebenslauf einer Mittdreißigerin, und wie alte Freunde und die Community reagieren. Es geht auch um den Fall, der sie ins Gefängnis gebracht hat, ein ungelöstes Geheimnis und einen „True Crime“-Fan und Stalker, der sich in Miris Privatleben hineinzeckt. Leider ist genau diese Figur ein bisschen die Schwachstelle der Show, denn sie wird nicht wirklich befriedigend zu Ende erzählt. Im Wesentlichen aber funktioniert die Mischung aus Comedy, Drama und Crime von Haggard und ihrer Co-Autorin Laura Solon („Man Stroke Woman“, „Harry And Paul“) sehr gut.
Mehr als die Show für sich begrüße ich aber die Gesamttendenz, mehr Serien aus frischen weiblichen Perspektiven zu sehen. Die letzten drei guten Sitcoms, die ich hier besprochen habe, sind von und mit Frauen, „Killing Eve“ läuft gerade in der zweiten Staffel, und mir gefällt das alles sehr gut.
Es ist immer ein bisschen problematisch, autobiographische Geschichten für Film und Fernsehen in Form zu bringen. Die Historie folgt eben keinen dramaturgischen Gesetzmäßigkeiten, und vieles, was im wahren Leben einleuchtend und selbstverständlich erscheint, bedarf on screen einer eigenen Motivation, um nicht zu irritieren.
Das gilt umso mehr, wenn es nicht ein Zeit-, sondern ein Krankheitsverlauf ist, der einer Fernsehserie zugrunde liegt. Wie eben in „Pure“ (Channel 4, 2019). „Pure“ beruht auf der wahren Geschichte und dem gleichnamigen autobiographischen Buch von Rose Cartwright, die bei der Fernsehfassung als Associate Producer geführt wird und auch beim Casting mitreden durfte (ich komme gleich darauf zurück). Die zur Rede stehende Krankheit ist OCD, und zwar eine besonders „reine“ Ausprägung davon (die medizinisch, glaube ich, umstritten ist); auf deutsch: eine Zwangsstörung.
Unter dieser Zwangsstörung leidet die 24jährige Marnie (Charlie Clive). Sie ist einem permanenten Störfeuer ihres eigenen Hirns ausgesetzt, das sie zwingt, sich sexuelle Handlungen mit praktisch allen Menschen vorzustellen, mit denen sie im Alltag zu tun hat — und zwar im gleichen Moment. Ganz besonders in stressigen Situationen. Zwangsvorstellungen, die ihr das Leben so sehr zur Hölle machen, dass sie nach einem besonders peinigenden Moment bei einer Familienfeier abhaut: Weg aus Schottland, ab nach London, wo niemand sie kennt.
Dort nun bekommt sie es bei ihrem ersten Versuch als freier Erwachsener mit den typischen coming of age-Problemen zu tun — PLUS den Vorstellungen, denen ihre Impulskontrolle nur bedingt gewachsen ist. Sie hat prompt Sex am Arbeitsplatz, trinkt, um den Stress irgendwie abzubauen, und hat bald die schönsten Verwicklungen am Hals.
Charlie Clive ist dabei die beste vorstellbare Besetzung und eine wahre Entdeckung. Sie ist die perfekte Mischung aus jugendlicher Unschuld, der man sofort alles verzeihen möchte, was sie aus schwer steuerbaren Impulsen heraus tut (und zerstört), und früh-erwachsener Persönlichkeit, die Verantwortung übernehmen sollte und muss für das, was sie anrichtet. Sie ist nicht das manic pixi dream girl, das in der Hollywoodversion dieser Serie von Zooey Deschanel gespielt werden müsste, sie ist keine männliche Autorenphantasie, sondern ein realer Mensch mit handfesten Problemen — und doch gleichzeitig charmant, jung, hübsch, begehrenswert.
Eine Gratwanderung, denn das Problem in dieser konkreten Variante autobiographischer Fiktion ist natürlich, dass wir den inneren Konflikt unserer Heldin sofort verstehen, der äußere aber schnell schwierig werden kann: denn klarerweise richtet Marnie genügend an, damit ihre Vorgesetzte, die Frau, die ihr den Job verschafft hat, alle, mit denen sie Sex hat, ihr böse sein können — aber was für Arschlöcher müssen das sein, wenn sie über Marnies Krankheit bescheid wissen und ihr das nicht zugute halten? Also muss Marnie zugunsten der Dramaturgie ihre Krankheit möglichst geheim halten oder darf jedenfalls nicht sofort damit herausrücken — sonst sind alle Konflikte, in die sie gerät, schon zu ihren Gunsten entschieden. Böse kann man ihr nur sein, wenn man nichts von ihrer Krankheit weiß.
Aber Charlie Clive kriegt es hin, und das mag einen Grund haben: Denn sie hat Erfahrung mit schwerer Krankheit und einem komischen Umgang damit. Sie hat selbst über ein Jahr unter einem Hirntumor gelitten, der die längste Zeit unentdeckt geblieben war — und später eine Zweimann-Comedyshow für das Fringe-Festival in Edinburgh daraus gemacht: „Britney“. In ihr hat sie die Erfahrung verarbeitet: als junge Frau ihren Aufenthalt in den USA abbrechen zu müssen, wo sie keine bezahlbare medizinische Betreuung finden kann, und zurück zu ihren Eltern nach Großbritannien zu ziehen. Dort wird ihr ein golfballgroßer Tumor entfernt.
Eine Erfahrung, die sie prädestiniert für die Rolle der Marnie; eine Erfahrung, die offenbar auch Rose Cartwright beim Casting für diese Rolle sofort bemerkt hat.
So ist aus „Pure“ eine Serie geworden, die eine psychische Erkrankung mit komischen Mitteln thematisiert, ohne dass je Scherze über die Krankheit gemacht würden. Ein absolut ernstes Thema, in einer Comedy angemessen repräsentiert. So gehen Serien, die man im Kopf behält. Und selbstverständlich blendet Channel 4 am Ende jeder Folge Kontaktdaten ein für Menschen, die sich von den dargestellten Konflikten angesprochen fühlen.
Gute Unterhaltung — und mehr als Unterhaltung. Alles, wofür ich britische Serien mag.
In den ersten vier Minuten „Killing Eve“ (BBC America, 2018) kommt in drei Szenen genau ein Mann mit Sprechrolle vor. Zunächst sehen wir die bis zum Psychopathischen hin charmant-kalte Serienkillerin Oksana Astankova alias Villanelle (Jodie Comer), wie sie in einem Wiener Eiscafé erst lächelnd Blickkontakt mit einem Mädchen aufnimmt, das mit seiner Mutter ein Eis isst, um ihm anschließend im Vorbeigehen den Eisbecher in den Schoß zu stoßen. Hübsch rätselhaft.
Dann sehen wir Eve Polastri (Sandra Oh) schreiend aufwachen, noch nicht wissend, dass sie die MI5-Beamtin sein wird, die später hinter Vilanelle her ermitteln wird. Sie schreit allerdings nicht wegen eines Albtraums oder einer echten Gefahr, sondern weil sie auf ihren beiden Armen eingeschlafen und in der Folge mit tauben Armen aufgewacht ist — ein Scherz, der schon schön mit Erwartungen und ihren Enttäuschungen spielt, was Schrecken und Bedrohung angeht, denn natürlich ist sie die namensgebende Eve in „Killing Eve“.
In der dritten Szene schließlich kommt Eve (zu spät) zu einer Lagebesprechung beim MI5, zusammen mit einer Kollegin, und trifft dort auf Carolyn Martens (Fiona Shaw), MI6-Abteilungsleiterin der russischen Sektion, der sie von ihrem eher unfähigen Supervisor Haleton (Darren Boyd, „Spy“) zugewiesen wird.
Ein ausgesprochen weiblicher Cast also, und das serienbestimmende Duell von charismatischer Serienkillerin und tolpatschiger Ermittlerin ist selbstverständlich ohnehin weiblich — und dennoch eines, das von Verführung, ja Obsession gekennzeichnet ist. Von einer comic- bis superheldenhaft überzeichneten Obsession noch dazu.
Das Katzundmaus-Spiel, das sich dann entwickelt, führt über zahlreiche pittoreske Schauplätze, phantasievolle Verkleidungen und Auftragsmorde zu einem Psycho-Showdown, bei dem die Sympathien immer wieder neu abgewogen und verteilt werden — aber so gut wie nie bei einem Mann liegen.
Bleibt sich Phoebe Waller-Bridge also treu, die „Killing Eve“ (nach den Romanvorlagen von Luke Jennings „Vilanella“-Büchern) als Drama mit sehr komischer Unterströmung adaptieren durfte und über deren erste Serie „Fleabag“ (BBC3, 2016) und ihre angenehm zeitgemäß feministische Perspektive ich in dem zwischenzeitlich letzten Beitrag dieses Blogs 2016 schrieb.
Wie schnell doch gerade Geschlechterrollen sich bis in Mainstream-Produktionen ändern! Zuletzt in „Bodyguard“ (BBC1, 2018), einer bis zur Humorlosigkeit ernsten Dramaserie um die moralischen Dilemmas eines Personenschützers (Richard „Robb Stark“ Madden), der in der ebenfalls ersten Szene eine weibliche Selbstmordattentäterin in spe aufhalten möchte und dabei mit einer Zugführerin, einer OP-Team-Leiterin, einer Polizistin, einem ganzen Team weiblicher bewaffneter Einsatzkräfte und einer Scharfschützin zu tun hat. So vielen Frauen in typischerweise männlichen Rollen also, dass bei Twitter ein (kleinerer) Shitstorm der Marke „political correctness gone mad“ losbrach, während etwa meine Frau nicht einmal bemerkte, wie viele Frauen da um den einen Helden herumgestellt waren.
(Meine Argumentation war übrigens, dass die BBC es hier lediglich vermeiden wollte, eine weibliche, bis auf den Sprengstoffgürtel unbewaffnete muslimische Selbstmordattentäterin von schwerst bewaffneten, weißen, nichtmuslimischen Männern überwältigen zu lassen, was einer im Grunde moralisch richtigen Handlung doch einen unangenehmen Beigeschmack gegeben hätte.)
Interessanterweise spielt die andere Serie des Jahres um einen sympathischen Serienkiller ebenfalls mit Geschlechterstereotypen, denn in „Barry“ (HBO, 2018) entstehen die komischen Konflikte aus der Spätberufung, die der Auftragsmörder Barry (Bill Hader, auch Creator der Serie) für die eher innerlich-weibliche Schauspielerei entdeckt. Was recht schnell die Welten von skrupulöser Schauspielschule und skrupelloser Tschetschenenmafia aufeinanderprallen lässt. Barrys weiches Herz jedenfalls, seine Empfindsamkeit, die hier mit seinem Pflichtbewusstsein seinem Auftragsvermittler gegenüber kollidiert, ist das genaue Gegenteil der männlichen Härte einer Villanelle.
Während allerdings „Barry“ mir trotz erheblicher Schau- und Produktionswerte als eher kleine Sitcom in Erinnerung bleibt (die dennoch eine der besseren dieses Jahres war), darf „Killing Eve“ ruhig als „das Beste, was dieses Jahr aus Großbritannien gekommen ist“ gelten, wie es mein britischer Gewährsmann in diesen Dingen Tom Harris bezeichnet hat: eine große Serie, die sehr zu Recht sehr erfolgreich ist und bereits vor Serienstart eine zweite Staffel erhalten hat, was dennoch zum Glück nicht verhindert, dass Phoebe Waller-Bridge in einer zweiten Staffeln „Fleabag“ auch selbst wieder vor der Kamera steht.
Was aber die beiden Großthemen Sex und Auftragskillerei miteinander verbindet, was in der Folge also auch sexuelle Identität und Auftragsmördertum in der Popkultur so aneinander bindet, dass bereits 2012 eine leider kurzlebige Serie von „Shameless“-Autor Paul Abbott um eine transsexuelle Killerin (Chloë Sevigny) in „Hit & Miss“ (Sky Atlantic) entstehen konnte: darüber würde ich gerne mal ein Uniseminar sehen.
An britischen Dramaserien herrschte dieses Jahr gewiss kein Mangel. Und an guten noch dazu. Jed Mercurios „Bodyguard“ (BBC1) konnte für BBC1 die besten Quoten seit zehn Jahren einfahren, Hugo Blicks „Black Earth Rising“ (BBC2) und Mike Bartletts „Press“ (BBC1) bei der Kritik zumindest die etwas under par gebliebenen Dramaserien des Frühjahrs ausgleichen, von denen etliche allerdings immer noch recht sehenswert waren — etwa David Hares „Collateral“ (BBC2 & Netflix, mit Carey Mulligan), „McMafia“ (BBC1 & AMC), eine Serie, die so gut in der Darstellung russisch-britischer Geldströme war, dass ein eigenes Gesetz nach ihr benannt wurde, und „Trust“, wenn man diese als britische Serie werten möchte, denn trotz britischer Autorenschaft (Simon Beaufoy), Regie (Danny Boyle) und Thematik (der Getty-Clan wurde zwar in den USA stinkend reich, stammte aber aus Großbritannien) ist sie natürlich eine FX-Serie.
Um Comedydrama war es 2018 schon nicht mehr ganz so gut bestellt: da fallen mir zunächst eigentlich nur „Killing Eve“ ein (BBC America), Phoebe Waller-Bridges stylishe Serie um die enigmatische Profikillerin Villanelle (Jodie Comer), die schon beinah Züge von Superhelden hat, und ihren gänzlich unglamourösen Widerpart, die MI5-Innendienstmitarbeiterin Eve Polastri (Sandra Oh). Dann war da noch die Miniserie „A Very English Scandal“ (BBC1), die den Jeremy-Thorpe-Skandal von 1976 – 79 um einen liberalen englischen Parlamentarier (Hugh Grant) und die Folgen seiner homosexuelle Affäre mit dem leicht persönlichkeitsgestörten Norman Josiffe (Ben Whishaw).
Und „Wanderlust“ (BBC1 & Netflix, seit September).
Ja, wanderlust ist ein Germanismus, ein ins Englische entlehntes deutsches Wort wie wunderkind, wiederganger und weltschmerz, und hier steht es für das Fernweh in langjährigen Beziehungen wie der zwischen Joy und Alan Richards (Toni Collette und Steven Mackintosh). Die Sehnsucht nach dem Fremden also, wenn die sexuelle Anziehungskraft des einen Menschen, mit dem man sich für immer und ewig gebunden hat, irgendwann eingeschlafen ist. Wie es bei langjährigen Ehepaaren vorkommen soll.
Wanderlust attestieren auch Joy und Alan sich, immerhin ist sie ohnedies Psychotherapeutin und kennt sich also aus, und schlägt in der Folge vor, dieser wanderlust doch ganz unverbindlich nachzugeben, sprich: eine sogenannte „offene Beziehung“ zu führen, in der man sich nicht gleich trennt, sondern erst noch im gegenseitigen Einverständnis Affären hat, über die hier dann auch noch die (schon halbwegs erwachsenen) Kinder unterrichtet werden.
Keine Überraschung, dass „Wanderlust“ denn auch stark von a) Dialogen und b) Sexszenen dominiert ist. Letztere sind in der Wahrnehmung der Serie denn auch sehr dominant, sowohl in der Kritik als auch in meiner Erinnerung, obwohl sie keineswegs freizügiger sind als englische Serien sonst, m.a.W.: gar nicht. Statt auf Entblößung setzt „Wanderlust“ auf mimische Reaktionen, so dass wir zwar sexueller Aktivität (und auch reichlich Passivität) beiwohnen, allerdings auf den Gesichtern der Beteiligten bleiben und uns so alles erspart bleibt, was außerhalb des Shots und unterhalb der Gürtellinie passiert.
Und, gute Güte, ist das oft peinlich. Absichtlich peinlich, versteht sich, cringe also, wenn Joy und Alan „es“ nach längerer Phase der Abstinenz gleich zu Beginn der ersten Folge mal wieder probieren. Sie hatte zuvor einen Fahrradunfall, der sie körperlich (und auch seelisch; darin liegt, wie wir später sehen werden, der Schlüssel der Serie) einschränkt, er einen Bart, der auch Frauen ohne Trauma im Zweifel lieber enthaltsam bleiben ließe.
Darüber (über Sex und den Unfall, nicht über den Bart) muss dann, siehe a), viel gesprochen werden. Und zwar so, wie es der leicht prätentiöse Titel „Wanderlust“ nahelegt: in pointierten Theaterdialogen. Tatsächlich liegt der Serie von Nick Payne sein gleichnamiges Theaterstück von 2010 zugrunde.
In diesen Dialogen, und auch hin und wieder in Monologen, wenn etwa von den Paaren, die bei Joy in Therapie sind, nur einer spricht (der sträflich unterbesetzte Andy Nyman), in diesen Dialogen also werden dann all die Konflikte verhandelt, die bei Beziehungsexperimenten wie diesen entstehen müssen: Selbstverständlich verliebt sich Alan dann doch in seine jüngere Kollegin Clare (Zawe Ashton, „Fresh Meat“). Klar lassen sich Jugendlieben wie die zwischen Joy und Lawrence (Paul Kaye, „Game of Thrones“) nicht ohne weiteres fortsetzen. Und selbstverständlich liegen unter der oberflächlich-sexuellen Dysfunktion nicht selten tiefere Konflikte, die Joy — in einer Episode, die wie eine bottle episode eine komplette Therapiesitzung bei ihrer Supervisions-Therapeutin Angela (Sophie Okonedo) abbildet — schließlich auch durchschaut.
Lediglich die Kinder scheinen unter den Eskapaden ihrer Eltern nicht zu leiden. Was nicht bedeutet, sie hätten keine sexuellen Probleme, nur haben diese offenbar keine direkte Verknüpfung mit denen ihrer Eltern. Das hätte wohl auch nicht in den, wie oft bei der BBC, leicht pädagogischen Subtext der Serie gepasst (den ich zuletzt bei „Press“ ein wenig zu aufdringlich fand).
Man merkt schon: Ich bin kein Fan geworden. Dabei ist „Wanderlust“ durchaus unterhaltsam, intelligent und schön gefilmt. Luke Snellins Regie tut ihr bestes, den Theaterdialogen kinogroße Bilder entgegenzusetzen. Toni Collette ist zu Recht eine große Schauspielerin, die seit „About a Boy“ (2002) immer wieder interessante, gebrochene Frauenrollen gespielt hat. (Und deren australische Herstammung man ihrem Englisch wohl selbst als Brite nicht anhört.)
Aber das Feld von Komödie und sexuellen Neurosen ist nicht zuletzt in Woody Allens Lebenswerk schon so oft beackert worden, dass diese — zugegeben sehr englische — Variante dann doch letztlich einen Ticken zu erwachsen war.
Was ist der Unterschied zwischen Plot und Story? Mir hat vor Ewigkeiten mal jemand erklärt: Plot, das ist Erst stirbt der König, dann die Königin. Alles andere ist Story.
Soll heißen: Aus Erst stirbt der König, dann die Königin kann man noch alles machen — das große Drama, ein Rührstück, bestes Degeto-Fernsehen.
Oder eben eine Komödie. Was, wenn die Königin sich schon lange darauf gefreut hat, dass der alte Esel endlich stirbt, und sich dann vor Freude an einem Kirschkern verschluckt und erstickt? Im Plot ist also noch nicht enthalten, wie der Stoff behandelt wird.
Mit anderen Worten: Es ist eines der größten Missverständnisse, dass die Geschichten, die Comedy erzählen kann, per se unernst, quatschig sein müssen. Es sind ernste Geschichten, mit komischen Mitteln erzählt, die am Besten funktionieren, denn sie gehen auf das Bedürfnis ein, etwas über echte Menschen zu erfahren (nicht über Comicfiguren) — und dabei trotzdem unterhalten zu werden.
„There She Goes“ (BBC4, seit Oktober) nimmt den ersten Teil seiner Geschichte absolut ernst. Die Mittelklassefamilie, bestehend aus dem spätjugendlichen Simon (David Tennant), seiner Frau Emily (Jessica Hynes), Sohn Ben (Edan Hayhurst) und Tochter Rosie (Miley Locke), hat eines der schwersten Schicksale, die man sich so vorstellen kann: Rosie ist lernbehindert. Allerdings ist „lernbehindert“ ein Euphemismus — tatsächlich ist sie praktisch schwerst autistisch. Sie muss permament überwacht werden, will man nicht, dass sie sich mit Milch übergießt, das Bad unter Wasser setzt, Fäkalien im Puppenhaus versteckt oder einfach nur ohne zu schauen über die Straße rennt, weil sie auf einem Autokennzeichen ein X gesehen hat und ihre einzige Liebe im Leben dem Buchstaben x gilt.
Diese Seite spielt vor allem Jessica Hynes (die offensichtlich viel zu selten ihre Talente als ernste Schauspielerin zeigen darf) sensationell. Sie als Mutter erfährt natürlich auch schon während der Schwangerschaft, dass ihre Tochter nicht so wächst, wie sie soll, schon als Säugling still und ernst ist — die Serie springt zwischen 2006 und 2015 hin und her — und dass praktisch alle Menschen um sie herum diese Situation nach Kräften ignorieren. Allen voran ihre eigene Mutter, deren Verdrängungsleistung der eines mittleren Öltankers gleicht. Wird schon werden! Alle Kinder sind unterschiedlich! Du wirst sehen, sie wird ein ganz normales Kind.
Wird sie natürlich nicht.
Aber wie „There She Goes“ den Stoff behandelt und die komischen Talente von Hynes und Tennant einzusetzen weiß, macht sie zu einem Highlight des Herbstes. Denn nicht nur das expandierende Chaos ist unbestreitbar komisch, auch die Reaktionen etwa des überforderten Simon, der zwischen Flucht in Feierabendbiere und halbherzigen Versuchen schwankt, die Familie nicht ganz aus der Balance geraten zu lassen: Wie er Emily nötigt, ihn mit Rosie in den Park zu fahren, 100 Meter, wo Rosie sich als erstes auf die Wiese legt und irgendwas in den Mund steckt, was zum Glück nur park matter ist; wie Simon frustriert den Fußball seines Elfjährigen wegkickt, um festzustellen, dass natürlich er selbst den dann zurückholen muss. Wie Emily Rosie auszutricksen versucht, deren Vorliebe für Schaumbäder, aus denen sie nicht mehr herauszuholen ist, in einer Art Schaum-Schach enden, bei dem Emily mit kleinen Snacks und Badezusatz Rochaden baut, um Rosie aus der Wanne zu locken. Und wie die Eltern über die Schwierigkeiten der Zahnpflege räsonieren, selbst ein professioneller Hygienespezialist habe in Rosies Fall auf einer Vollnarkose bestanden: das ist nichts weniger als sehr komisch.
Shaun Pye, Autor der Show, hat selbst ein lernbehindertes Kind mit einer noch nicht genau diagnostizierten Chromosomenmutation, was den ernsten Teil erklärt, hat für „Armstrong and Miller“ geschrieben und „The Increasingly Poor Decisions of Todd Margaret“ mitentwickelt und war Nebendarsteller in Ricky Gervais‘ „Extras“ — was den komischen Teil erklärt.
Absolut undenkbar hierzulande (um auch diesen Punkt gleich mal wieder zu machen) wären Dialoge wie der zwischen dem oberflächlichen Daddy mit Fluchttendenzen und der Mama, die nur noch aus einer tiefen Müdigkeit zu bestehen scheint (habe ich schon erwähnt, wie fantastisch Jessica Hynes in dieser Rolle ist?).
2006. SIMON und EMILY stehen über dem schlafenden Säugling in der Krippe.
SIMON
Look at Rosie. Isn’t she beautiful? You know what, if we had to do it all over again, I wouldn’t change a thing. Because whatever’s wrong … I’d want it to be wrong again. Because if she was different, she wouldn’t be Rosie, would she? (Pause) Would you? Would you want to change anything?
EMILY (sehr müde) Yes. Yes. I’d change it all.
SIMON
Really? You’d want Rosie to be someone else?
EMILY
It was my worst nightmare, having a learning-disabled child. And it seems like it’s coming true.
SIMON
Why does it have to be the worst?
EMILY
Because I’m an intellectual snob? And because … Well, because I don’t know if I can … value her. Erm … You know, I love Ben, with his jigsaws and his puzzle books, just with all my heart, but I … I don’t know. I don’t know how to love her. I don’t. You know, it’s not that I don’t want to love her, I just don’t think I can.
SIMON
You’re overthinking it.
EMILY
Yeah, well, that’s what I do. Yeah, but you know, I mean, she’s got you. You know, and she’s got Grandma, she’s got the grandparents and they all love her
unconditionally, so, yeah … you know, she will be loved. I’m just not sure if it will
ever be by me, that’s all.
Über ein behindertes Kind sagen, dass man keine Liebe dafür empfindet — das würde in tausend Jahren hier nicht durchgehen. Zu viel Ehrlichkeit, zu viel sozialer Druck. Nicht einmal, wenn es so situativ ist wie hier, denn in den Szenen, die 2015 spielen, wird schon recht eindeutig klar, dass Emily ihre Tochter durchaus liebt.
Aber diese Ehrlichkeit macht „There She Goes“ zu einer fantastischen Serie.
(Mit-)produziert hat hier übrigens Sharon Horgan, die mittlerweile eine der treibenden Kräfte des Britcom-Business geworden ist, und eine, die offenbar stets diesen realistischen Blick anstrebt, der auch „Catastrophe“ (Channel 4, seit 2015) auszeichnet. Ganz anders als, sagenwirmal, Julia Davis, deren „Sally4Ever“ mich nach der ersten Folge so gar nicht überzeugt hat. Aber da kommt ja noch was.
In jeder Erbengemeinschaft steckt das „gemein“ ja schon drin. Sie streiten sich, immer, denn sie können sich nie auf was einigen, diese verblödeten Nachkommen: der eine zu doof, der andere zu machthungrig, die dritte zu abgestoßen von der ganzen Familie, der vierte hält sich wieselhaft aus allem heraus, um Ende auf der Seite des Gewinners wieder aufzutauchen. Erben …! Um so problematischer natürlich, wenn das Erbe noch gar nicht zu verteilen ist, weil der Alte ja noch lebt.
Hier liegt der Stoff für die Konflikte, um die es in „Succession“ (HBO) geht. Nur dass die Familie nicht die Durchschnittsnachbarn mit Mietshaus und Aktienfonds sind, sondern die eines Medienzaren, vergleichbar mit, sagen wir mal, der Rupert Murdochs (kein Zufall, dieser Vergleich). Und das Erbe dementsprechend ein Imperium, das der Alte nicht und nicht aus der Hand geben möchte. Trotz Krankheit, Alter und allgemeiner Erschöpfung.
„Succession“ stammt aus der Feder von Jesse Armstrong, dessen Frühwerk „Peep Show“ war, eine Kollaboration mit Sam Bain, wie auch in etlichen anderen Fällen (von „Smack The Pony“ bis „Fresh Meat“). Armstrong hat aber auch für und mit Chris Morris und Armando Iannucci geschrieben, nicht zuletzt „Four Lions“, „The Thick of It“ und (wenn auch nur eine Folge) für die US-Weiterentwicklung von „The Thick of It“, „Veep“, die brillante Polit-Satire mit Julia Louis-Dreyfus, die nach der nächsten Staffel leider zuende gehen wird.
Kein Wunder also, dass diese Tonalität auch bei „Succession“ vorherrscht: der späte Stil der Mockumentary, der sich des dokumentarischen Blicks bedient (Wackelkamera, kleine, schnelle Zooms), ohne aber meint, die Anwesenheit eines Kamerateams erklären zu müssen, schnelle, scharfe Dialoge mit viel Wortwitz und realistische Szenarien und Charaktere, mit denen man viel mehr empathisch sein kann als mit durchschnittlichen Sitcom-Figuren.
Diese Empathie allerdings macht Armstrong dem Zuschauer nicht leicht. Denn die Familie unter dem Patriarchen Logan Roy (Brian Cox) ist durchaus deformiert. Der natürliche Nachfolger, der zweitälteste Sohn Kendall (Jeremy Strong, „Masters of Sex“) erscheint nicht nur seinem Vater schwach (Drogen, Scheidung), zu schwach, um den Konzern zu führen, also desavouiert der Alte ihn und übernimmt kurzerhand selbst wieder die Geschäftsführung. Kendalls kleiner Bruder Roman (Kieran Culkin, dem man die Verwandtschaft mit Macauly Culkin deutlich ansieht) pfeift sich nicht nur noch mehr Drogen rein als Kendall, sondern ist auch noch ein ausgemachtes, wenn auch sehr komisches, weil scharfzüngiges, Arschloch. Die Schwester Shiv (Sarah Snook) neigt ohnehin mehr zur politisch anderen Seite und unterstützt einen politisch verfeindeten US-Senator bei seiner Kandidatur zum Präsidenten, bleibt aber in ihren daddy issues gefangen. Und der älteste Sohn Connor (Alan Ruck, „Ferris Bueller’s Day Off“) hat sich in sein Wolkenkuckucksheim zurückgezogen, um in Ruhe mit seiner Escort-Beziehung („Sie ist Schauspielerin!“) auf einer Farm in Texas zu leben.
Wie in jeder Serie um Superreiche seit „Dynasty“ geht es auch in „Succession“ um Intrigen, Machtverhältnisse, feindliche Übernahmen, Verschwörung und Erpressung, um gierige Einheirater und verhängnisvolle Affären, um Leichen im Keller und Familiengeheimnisse, um die ganz normalen Sorgen von Milliardären eben. Alles vor dem Hintergrund der Nachfolge bei FOX, hups, nein, bei Royco natürlich. Für Royco und den Weg des Konzerns in die Zukunft hat Kendall einige gute (oder „gute“?) Ideen (Internet!), die allerdings denen seines Vaters (mehr Fernsehstationen!) diametral entgegengesetzt sind.
Die Deformation durchs Kapital wird hier deswegen so brutal spürbar, weil alle Figuren sich etwas, nun ja, ganz Normales erhalten haben. Allen voran der Patriarch selbst, der lieber im Wolljanker die Vorstandssitzung leitet als im Anzug. Den zu früh erfahrenen Reichtum, dass er den Weg zur Arbeit öfter mit dem Helikopter denn mit der U-Bahn genommen hat, spielt niemand besser als Kieran Culkin, eine Traumbesetzung, und dass auch an den Denkmälern der wichtigsten Manager einmal „Immer noch eine Enttäuschung für seinen Vater“ stehen wird, drückt Jeremy Strong verblüffend gut aus.
Die Nähe zu „Veep“ wird am Deutlichsten in der Figur des ewigen Praktikanten (und Cousins) Greg Hirsch (Nicholas Braun), der so groß ist, wie er schwach und tollpatschig ist: da sieht und hört man sehr den Jonah Ryan (Timothy Simons) durch, der in „Veep“ als Verbindungsmann zum Weißen Haus ständig mit den Mitarbeitern von Celina zusammenstößt.
Aber „Succession“ ist völlig eigenständig: die Geschichte eines Generationenkonflikts in einer Superreichendynastie, ernst gemeint, aber komisch erzählt. Mitunter hasst man die Charaktere allesamt vielleicht ein bisschen zu sehr — der Verzicht auf auch nur eine an sich sympathische Figur macht „Succession“ stellenweise anstrengend. Aber gute Satire darf auch ein bisschen anstrengend sein, dafür gibt es HBO schließlich. Die haben nun, trotzdem „Succession“ kein Quotenhit war, eine zweite Staffel bestellt. Sehr zu meiner Freude, denn mit dem Ende der Serie hat Armstrong es geschafft, sowohl ein zufriedenstellendes Finale dieser Staffel zu finden als auch genügend Bälle in der Luft zu halten, dass man sich eine zweite Staffel vorstellen kann.
Bedauerlich finde ich einzig und allein den fortgesetzten Brain Drain aus Großbritannien. Offenbar ist nun auch Jesse Armstrong in den USA angekommen. So sehr ich ihn wie Iannucci, Sharon Horgan (mit „Divorce“ ebenfalls bei HBO), Julia Davis (demnächst mit „Sally4Ever“ dito bei HBO), Simon Pegg, Sacha Baron-Cohen, Steve Coogan, Gervais, Merchant und all die anderen dazu beglückwünsche und es verstehen kann, dass man Erfolg in den USA sucht, so sehr würde ich mir wieder mehr gute komische britische Fernsehserien wünschen.
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