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Archiv für die Kategorie ‘Drama’

Das glückliche Tal der schwachen Männer

Habe ich gestern geschrieben, dass „Happy Valley“ (BBC1, 2014) mich schon nach der ersten Folge überzeugt hatte, weil die sehr gut erzählt war, so ist mir im Laufe der weiteren fünf Folgen aufgefallen, was konkret mir an der (auch im Weiteren exzellent geschriebenen) Serie gefällt: nämlich ihre weibliche Perspektive und wie sie von schwachen Männern erzählt und davon, dass es vorrangig Frauen sind, die diese Schwächen ertragen müssen. Weil es vorrangig Männer sind, die kriminell werden, und weil ihre Taten Auswirkungen auf Familien haben, ob sie das wollen oder nicht — auf fremde Familien wie auf die eigene.

Dabei ist die größte Schuld der Männer (ich werde keine Inhalte erzählen, weil ich Spoiler vermeiden möchte) ihre Schwäche: Neid, Feigheit, Gier, Gewalttätigkeit — um nur mal vier zu nennen. Aus den Schwächen der Männer entsteht Verbrechen: Entführung, Vergewaltigung, Mord. Und die Verbrechen wirken sich auf Familien aus, auf Frauen, auf Kinder. „Happy Valley“ ist genauso sehr Drama- wie Krimiserie, und die Gewalttätigkeiten, die hier so explizit gezeigt werden, wie es derzeit eben erzählerischer Standard ist, in ein Familiendrama hineingetragen zu sehen, das macht „Happy Valley“ mitunter schwer erträglich. Und zu einer fantastischen Serie.

Starke Polizistinnen haben derzeit offenbar Konjunktur. Nicht nur in den USA („Fargo“), auch in Großbritannien gibt es mittlerweile einige: In „The Fall“ (RTÉ1/BBC2, 2013) ermittelte Gillian Anderson in Belfast in einer äußerst düsteren Atmosphäre einem Serienmörder hinterher, in „Broadchurch“ (ITV, 2013) war es Olivia Colman, die neben David Tennant in ihrem eigenen kleinstädtischen Umfeld den Mord an einem Kind aufklären musste. Mit erschütterndem Ergebnis.

Aber Sarah Lancashires Catherine Cawood in „Happy Valley“ ist weder die toughe, selbstbestimmte Ermittlerin, wie Anderson sie spielt, noch die schwache Ellie Miller aus „Broadchurch“. Sie ist beides: eine selbstbewusste, sehr professionelle Kriminalerin (die sich öfter gegen ihre tendenziell korrupten und faulen Kollegen durchsetzen muss), und alleinerziehende Oma, die unter dem Selbstmord ihrer Tochter beinah zusammenbricht. Auch sie ist also schwach, und auch aus ihrer Schwäche erwächst Schuld, wenn sie etwa mit einer jungen Polizistin strenger umspringt, als es der Situation angemessen gewesen wäre. Oder mit ihrem Exmann eine Affäre beginnt, obwohl der wieder in festen Händen ist.

Sally Wainwright, die „Happy Valley“ geschrieben hat, schafft es durch die Bank, Figuren zu zeichnen, die ungeahnte Tiefen und Untiefen haben. Keiner ist ganz böse oder ganz dumm und schon gar nicht ganz unschuldig; sie kompromittiert nicht einmal die übelsten Burschen unter ihren Figuren durch platte, zweidimensionale Darstellung, sondern gibt auch ihnen Momente, in denen sie uns nahe kommen. Näher als uns lieb ist sogar. Selbst das erbärmlichste Wiesel, der wachsweiche Kevin Weatherill (der brillante Steve Pemberton), der zwischendurch zur Witzfigur mit comic relief-Momenten wird, kriegt eine Szene, in der er eine böse Wahrheit aussprechen darf und uns damit klar macht, wie sehr wir uns vor moralischer Überlegenheit hüten sollten. Weil es womöglich gerade die Selbstgerechtigkeit ist, die uns schuldig werden lässt. Böse Ironie also.

Diese böse Ironie ist bei „Happy Valley“ schon im Titel zu spüren: happy valley nennen die Cops die Gegend, in der die Serie spielt, wegen des massiven Drogenkonsums dort.

Wie man Backstory erzählt

28. Juni 2014 8 Kommentare

Gerade habe ich die erste Folge „Happy Valley“ (BBC1, 2014) gesehen und bin wieder einmal beeindruckt, wie viel höher die erzählerischen Standards des englischen Fernsehens im Vergleich zum deutschen sind. Da gibt es zum Beispiel die Ehefrau einer Hauptfigur, die im Rollstuhl sitzt, aber diese wichtige Information wird uns nicht aufs Brot geschmiert, sondern ganz beiläufig erzählt: nicht in der ersten Szene, in der die beiden beim Abendessen am Tisch sitzen und wir die Behinderung gar nicht sehen können, sondern in der zweiten, wo Kevin (Steve Pemberton) Jenny (Julia Ford) ins Bett hilft. Erwähnt wird die Behinderung der Frau mit keiner Silbe. Und prompt wissen wir: Kevin ist nicht mit einer Querschnittgelähmten verheiratet, sondern mit einer Frau, die querschnittsgelähmt ist*. Die Figur ist nicht durch ihre Behinderung definiert, ihre Behinderung ist einfach ein Aspekt dieser Figur, und vielleicht nicht einmal ihr wichtigster.

Aber viel entscheidender: Die andere Hauptfigur von „Happy Valley“ ist eine 47jährige Polizistin in Yorkshire. Sie ist geschieden, lebt mit ihrer Schwester zusammen, die ein cleaner Heroin-Junkie ist, sie hat zwei erwachsene Kinder, von denen eines tot ist und eines nicht mit ihr spricht, und einen Enkel. Es geht in dieser Serie von Anfang an um den seelischen Ballast, den Catherine (Sarah Lancashire) mit sich herumträgt, also die Backstory ihrer Figur, so dass das Drehbuch zumindest ein paar zentrale Informationen über diese Figur sehr schnell klar machen muss. Der Grundsatz „show, don’t tell“, der bei einer Körperbehinderung leicht umzusetzen ist, funktioniert hier nicht. Diese Informationen aber in Dialoge zu zwängen, die die Handlung nicht vorantreiben, verbietet sich andererseits auch – wie quälend schlecht solche Dialoge zwangsläufig sein müssen, sieht man bei mediokren deutschen Fernsehkomödien ja in schöner Regelmäßigkeit: „Übrigens erwarten wir heute Abend deine Tante zum Essen, du weißt schon, die bei unserer Hochzeit mit deinem Vater geschlafen hat!“ – „Wie, Tante Erna kommt den ganzen weiten Weg aus Buxtehude her zu uns nach Drömmelhausen?“ usw. usf.

Wie also löst Autorin Sally Wainwright („Bonkers“) dieses Dilemma? Sie lässt Catherine sagen: „Ich bin geschieden, lebe mit meiner Schwester zusammen, die ein cleaner Heroin-Junkie ist, habe zwei erwachsene Kinder, von denen eines tot ist und eines nicht mit mir spricht, und einen Enkel.“ Klingt nicht sehr clever? Ist es aber: denn sie sagt es einer Situation, in der sie in ihrer Eigenschaft als Polizistin mit einem zugedröhnten Twen spricht, der sich auf einem Spielplatz mit Benzin übergossen hat und sich anzuzünden droht. Sie sagt es, weil sie weiß, dass man in solchen Situationen am Besten viel persönliche Information von sich preisgibt, um zwischenmenschlichen Kontakt herzustellen. Was auch funktioniert. Und schwups ist das Problem gelöst: die Backstory im Dialog erzählt UND die Handlung vorangetrieben: wir wissen neben ihrer Geschichte nämlich auch, dass sie eine patente, erfahrene, umsichtige Polizistin ist, die sich einerseits einfühlsam zu verhalten, andererseits entschieden vorzugehen weiß — denn einen Feuerlöscher hat sie praktischerweise gleich mitgebracht.

Toll. Diese Lösung war so clever, dass ich den Trick überhaupt erst bemerkt habe, als in der zweiten Folge genau diese paar Sätze im „Was bisher geschah“-Vorsetzer auftauchten.

Dass die Serie offenbar gut bis sehr gut ist, ist übrigens im Verlauf der ersten Episode schnell deutlich geworden. Mehr vielleicht demnächst, wenn ich mehr gesehen habe.

* Sie ist nicht querschnittsgelähmt, sondern leidet an Multipler Sklerose, aber das macht hier ja keinen Unterschied.

Unsere Schwestern, unsere Mütter

20. Januar 2014 2 Kommentare

Im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung hat Tobias Rüther gestern in dem lesenswerten Stück „Über uns“ (das ich aufgrund der völlig undurchschaubaren Suchfunktion bei faz.net leider nicht gefunden habe) darüber reflektiert, dass bei allen großartigen amerikanischen Fernsehserien der letzten Jahren leider ein Genre hinten runter gefallen sei: Das der Familienserie. Denn es gebe, so Rüther, zwar allerlei Serien, die durchaus Aspekte des familiären Zusammenlebens schilderten — das aber vorwiegend durch die Brille des Kriminalisten oder Kriminellen. So könne man eben Walter Whites Entwicklung in „Breaking Bad“ schon als die Emanzipation eines Mannes lesen. Aber eine Familienserie, die etwas weniger märchenhaft sei als die von „Downton Abbey“, die fehle halt, zumal im deutschen Fernsehen, völlig.

Nun ließe sich darüber streiten, ob nicht der Subtext von Fernsehserien, den Rüther ja auch erwähnt, in den meisten Serien, manchmal mehr, manchmal weniger deutlich aufs Familiäre, auf die Urform aller Institutionen und Lebenssysteme abhebt: Natürlich bei Sitcoms sowieso, wo der Unterschied zwischen DomComs (also domestic sitcoms, die in der Familie spielen) und CareerComs (die am Arbeitsplatz spielen) oft vielleicht inhaltlich, aber nicht formal sind (siehe das Glossar dieses Blogs), weil es strukturell keinen Unterschied macht, ob man einen verrückten Vater oder einen verrückten Boss hat, dem man ausgeliefert ist, oder ob nebenan ein verstörter Kollege oder Bruder sitzt, an dem man seinen Frust auslassen kann. Bei den „Sopranos“, um nur mal ein Beispiel zu nennen, ist der „Beruf“ ja praktisch schon die Familie, denn so nennt sich die Mafia praktischerweise gleich selbst.

So sagen also viele Serien, denen man es vorderhand nicht ansieht, etwas über den Zustand der Familie aus, insofern die Familie die kleinste Gesellschaft in der Gesellschaft ist. Kleiner Exkurs: Exkulpationsfernsehen wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ etwa will, meine ich, den (deutschen) Zuschauer nicht nur von seiner Mitschuld am Dritten Reich mehr oder weniger freisprechen, sondern auch aus seiner Verantwortung für das, was heute so schiefgeht. Es wäre mal interessant, zu untersuchen, wie viele Parallelen sich da auf zeitgenössische Komplexe finden lassen, und ob dieser revisionistische Scheiß nicht auch gleich Persilscheine für die Gegenwart ausstellt: Klar, es gibt ein paar abgrundtief Böse, aber die meisten (von uns) können doch gar nicht anders, als mitzutun, wenn sie nicht untergehen wollen! Dass da ein paar Fremdartige über die Klinge springen — nicht schön, aber was will man machen.

Tobias Rüther aber hätte gerne „eine Serie über junge Paare, oder ältere, die sich den Kopf zerbrechen, wann der richtige Zeitupunkt wäre, ein Kind zu kriegen, und es dann trotzdem versucht [sic]“ — und dem Manne kann geholfen werden. Denn es gibt eine britische Serie, der die Quadratur des oben beschriebenen Kreises gelungen ist: Eine Serie, die am Arbeitsplatz spielt, der seinerseits die Familie repräsentiert, aber mit Familien und Kinderkriegen beschäftigt ist, weil es nämlich um Hebammen geht: „Call The Midwife“ (BBC1 seit 2012; gerade ist die erste Folge der dritten Staffel gelaufen).

„Call The Midwife“ ist in Großbritannien sehr erfolgreich; vielleicht nicht zuletzt aus den Gründen, die Rüther anführt: es besteht enormer Bedarf, genau das Kinderkriegen und seine Bedingungen zu diskutieren. Und das tut die Serie sehr klug und sehr warm.

„Call The Midwife“ erzählt aus der Perspektive der jungen Jenny Lee (Jessica Raine), die im armen Londoner East End der späten Fünfzigerjahre Krankenschwester und Hebamme wird. Sie und ein paar andere Hebammen leben und arbeiten in einem Nonnenkloster (also mit Schwestern, die aber durchweg älter als die Hebammen sind und deshalb eher mütterlich wirken — da wäre er wieder, der Familienbezug), ohne selbst dem Orden anzugehören, und sie gehen in ihrem Sprengel weit mehr Aufgaben nach, als nur der, Kinder auf die Welt zu bringen: Sie kümmern sich schon während und auch nach der Schwangerschaft um die medizinische Versorgung der jungen Mütter, sind nicht selten die einzige Bezugsperson für sie und werden oft Bestandteil der Familien auf Zeit. Geprägt ist das Setting der Serie von den Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs: Männer sind oft abwesend und/oder alkoholabhängig, der Lebensstandard äußerst niedrig, ja, es gibt noch Armenhäuser, in denen die Schwächsten der Gesellschaft unter menschenunwürdigen Bedingungen zur Arbeit gezwungen werden.


Klarerweise steht die Medizin der Zeit (und ihre Rückständigkeit) dabei im Mittelpunkt; „Call The Midwife“ gilt als Medical Drama. Das scheint gerade populär zu sein, denn auch das fabelhafte ComedyDrama „Masters of Sex“ (Showtime, 2013) widmet sich der Medizin der Fünfziger, und auch „Breathless“ (ITV, 2013) wählt das Setting einer Entbindungsstation im London dieser Zeit (und erzählt dann, das wird Rüther nicht gefallen, in diesem Rahmen ein Kriminaldrama). Beeindruckend an „Call The Midwife“ ist in diesem Zusammenhang wiederum, wie realistisch die Geburten gezeigt werden — ich zumindest habe so lange jedes Neugeborene für echt gehalten, bis ich im Bonusmaterial der DVDs sehen konnte, wie naturgetreu die Puppen aussehen, die für solche Zwecke entwickelt worden sind. Ziemlich gruselig, die Dinger, soviel kann ich verraten.

Es sieht also alles sehr echt und authentisch aus in „Call The Midwife“. Möglicherweise, weil die Serie auf den autobiographischen Aufzeichnungen und dem entsprechenden Buch einer Hebamme beruht: Jennifer Worth, die der Produktion mit Rat und Tat zur Seite stand, bei den Dreharbeiten dabei war und so dafür gesorgt hat, dass Heidi Thomas („Upstairs, Downstairs“) die Sets, Kostüme und Dialoge so originalgetreu wie möglich gestalten konnte. Bittere Pointe, dass Worth vor der Ausstrahlung der ersten Folge gestorben ist und so ihre fürs Fernsehen adaptierte Lebensgeschichte selbst nicht mehr sehen konnte.

Aber alles, was sie über die vielen Familien und die Umstände, in denen damals Kinder gezeugt und geboren wurden, sagen wollte, konnte sie so noch sagen. Und vieles, was in den Episoden, die sich meist um einzelne Fälle drehen, sonst untergegangen wäre, ließ sich im großen Bogen erzählen, den die Geschichte der Nonnen und ihres Hauses sowie die Storys der Hebammen bilden: Über Demenz etwa, denn eine ältere Nonne hat zunehmend Schwierigkeiten mit der Realität. Über Klassenunterschiede etwa, denn „Chummy“ Browne (Miranda Hart in einer erträglichen Rolle — die Frau kann schauspielen, wenn sie will) will Hebamme werden, trotz einer Herkunft aus der Oberschicht, die sie alles andere als prädestiniert für diesen Beruf.

Vor allem aber über eben Familiengründung: Denn Nurse Lee (deren älteres, heutiges Ich mit der Stimme von Vanessa Redgrave qua Voice Overs Anfang und Ende jeder Folge kommentiert) hat selbst ihre Probleme mit der Partnerwahl, damit, sich zu verlieben und jemanden in ihr Leben zu lassen. Sich mit ihr zu identifizieren, ist recht leicht, und das ist der billante Kniff der Serie: so steht eine Figur im Zentrum, die selbst weit davon entfernt ist, Kinder zu kriegen — und schon ist die Distanz zu all dem Kinderkriegen geschaffen, die diese Serie auch für Kinderlose interessant werden lässt.

Auch „Call The Midwife“ sagt, siehe oben, etwas über die Gegenwart und darüber, wie es ums Kinderkriegen heute bestellt ist (auch wenn man nichts darüber erfährt, wie schwierig ist es, einen Kitaplatz in München zu kriegen). Wenn es das nicht täte, könnte man als Zuschauer auch nicht daran anschließen, dann würde die Serie auch nicht zu einem sprechen. Aber das tut sie, laut und deutlich.

Dabei strotzt „Call The Midwife“ natürlich nur so von positiven Botschaften. Wie sollte das auch anders sein: Die Serie ist für den Mainstream gedacht, und sie bedient ihn, wie ihn „Downton Abbey“ bedient: mit dem großen Gestus des Period Dramas. Es geht um den Zusammenhalt, es werden Vorurteile gegen Farbige überwunden, die Medizin macht Fortschritte, große sogar, weil sie ja noch so rückständig ist, und selbst wenn Nonnen vom Glauben abfallen und sich zögernd, aber doch mählich wieder einem weltlichen Leben zuwenden, verlieben und heiraten, bleiben sie nichtsdestoweniger in der großen Gemeinschaft ihrer Lieben.

Aber „Call The Midwife“ schafft es trotzdem, ehrlich zu bleiben (etwas, woran viele deutsche Fernsehserie brutal scheitern): Nicht jeder Bomben-Blindgänger (die Story des Weihnachts-Specials) kann entschärft werden, Kriegs-Traumata (hier die des Korea-Kriegs) bleiben unbehandelbar, und Kinderlähmung ist eben Kinderlähmung. Nicht jedem kann geholfen werden, und Trauer gehört zum Leben genau wie Freude. „Call The Midwife“ ist, abermals wie „Downton Abbey“ (und „Upstairs, Downstairs“ von Heidi Thomas war ja nun der Vorgänger von „Downton Abbey“), gut darin, Kitsch zu vermeiden — na ja, weitgehend jedenfalls.

„Call The Midwife“ wäre also genau die Serie, die sich Tobias Rüther fürs deutsche Fernsehen wünschen würde. Leider hat das aber nur die lustige Nonnentruppe von „Um Himmels Willen“ zu bieten.

Große Egos, große Show

Man hat es nicht leicht mit Aaron Sorkin („The West Wing“, „The Social Network“). Der Mann hat einfach ein zu großes Ego, eines, das ihn dazu zwingt, immer wieder Botschaften vermitteln zu wollen, obwohl er vermutlich selbst weiß, dass er doch immer nur zu den Bekehrten predigt.

Das Predigthafte stört am meisten an „The Newsroom“ (HBO; die erste Staffel ist gerade auf DVD erschienen, die zweite läuft momentan in den USA): dauernd wird der Zuschauer unterrichtet. Mal politisch (Republikaner schlecht, Demokraten gut), mal über den Zustand der Medien (liegt einiges im Argen). Dann wieder probiert sich Sorkin zum Ausgleich an Momenten romantischer Komödien — und auch die gehen regelmäßig daneben. Das Verblüffende ist nur: trotzdem ist „The Newsroom“ sehr unterhaltsam; trotzdem gibt es regelmäßig etwas zu lachen.

Denn nicht nur erzählt Sorkin gute Geschichten und entwickelt plausible Charaktere, seine Figuren reden auch noch durchgehend aberwitzig schnell und denken noch schneller. Jeder Schlagabtausch ist, wo nicht witzig, so doch mindestens gewitzt, sprich: scharfzüngig und clever. Das ist natürlich manipulativ, denn so hat man auch als Zuschauer das Gefühl, selbst gewitzt und clever zu sein, zumal wenn man zu der politischen Haltung neigt, die hier permanent demonstriert wird.

Zum Glück nimmt ausgerechnet die Hauptfigur oft das Tempo ein bisschen heraus: Will McAvoy (Jeff Daniels), der Mann mit dem größten Ego innerhalb der Serie. Will ist Anchorman des fiktiven Kabelsenders Atlantis Cable News, und er bekommt unanständig viel Geld dafür, seine Meinung für sich zu behalten. Damit allerdings ist in der ersten Folge Schluss: Will faltet bei einer universitären Veranstaltung von der Bühne herunter eine patriotische Studentin zusammen, erklärt ihr en détail, was schiefläuft in den USA, und bemüht sich fortan (gegen den Widerstand der Senderchefin [sehr gut: Jane Fonda]), aufklärerische, einem ethischen Journalismus verpflichtete Nachrichten zu machen. Dabei steht ihm seine Exfreundin MacKenzie McHale (Emily Mortimer) und ihr Team zur Seite, und „The Newsroom“ erzählt in der Folge pro Episode, was während tatsächlicher Nachrichtenereignisse — etwa des Öl-Lecks im Golf von Mexiko, der Atomkatastrophe von Fukushima oder der Erschießung bin Ladens — hinter den Kulissen der Nachrichtensendung vor sich geht.

Das sind Kämpfe gegen die kommerziell ausgerichtete Muttergesellschaft, die nur an Quote und Werbeeinnahmen interessiert ist, das sind Fragen um den richtigen Umgang mit Interviewgästen, für die der Interviewer auch dann eine gewisse Verantwortung hat, wenn sie erkennbar im Unrecht sind, und nicht zuletzt Dilemmata den Umgang mit Journalistenkollegen betreffend, die es sich im Boulevard eingerichtet haben wie Maden im Speck. Selbstverständlich neigt Will McAvoy zu einem herablassenden Umgang mit Tabloid-Reporterinnen, und es gehört zu den schönen Momenten der Serie, wenn er mal wieder eine Reporterin kleinmacht und daraufhin mehrfach Getränke ins Gesicht geschüttet bekommt. Da kommt Freude auf — obwohl die Show keinen Zweifel daran läßt, dass Will im Recht ist — denn er hat die nötige Fallhöhe, und Jeff Daniels die richtige Auswahl von blasierten Gesichtsausdrücken im Schrank, die ihn zu einer komischen Begabung machen.

Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Es ist nicht alles gut in „The Newsroom“. Die Serie ist nervtötend moralisch, oft pathetisch, Will McAvoy wird bei aller Arschlochhaftigkeit doch viel zu heldenhaft dargestellt, und von Sorkins Frauenbild möchte ich nicht einmal anfangen. Es ist mithin ein arges Durcheinander zu besichtigen in „The Newsroom“. Aber doch ein recht kurzweiliges und unterhaltsames.

Von der Geschlechterrolle

6. Juni 2012 4 Kommentare

Phallische Frauen (in Film & Fernsehen) sind ein Klischee, das sich Männer für Männer ausgedacht haben. Da gibt es das kleine Mädchen mit der großen Kanone (Natalie Portman alias Mathilda in Luc Bessons „Léon – Der Profi“), das von einem viel älteren Mann in eine Welt der Waffen und des Tötens eingeführt wird. „G.I. Jane“ (Demi Moore im gleichnamigen Film von Ridley Scott), die in einem Militärverherrlichungsfilm wie aus der Werbeabteilung der U.S. Army zum besseren Soldaten wird. Und es gibt die ungezählten phallischen Frauen Quentin Tarantinos: Allen voran die rachebeseelte Braut in „Kill Bill“ (Uma Thurman), die den Gender-Spieß umdreht und mit einem richtig langen, scharfen Samuraischwert in Männer eindringt, dass es nur so spritzt. Die ebenfalls von Revanche besessenen Flintenweiber in „Death Proof“, Stuntfrauen ihres Zeichens, die mit einem sehr männlichen Instrument töten, nämlich mit dem Auto. Die Frauen in von Tarantino geschriebenen Nebenrollen, die mit Pflöcken (!) auf Männerjagd gehen (Juliette Lewis als Kate Fuller in Robert Rodriguez‘ „From Dusk Till Dawn“) oder mit ihren Männern zu einem Ausflug mit Todesfolge (für viele andere) aufbrechen (abermals Juliette Lewis, hier als Mallory Knox in Oliver Stones „Natural Born Killers“).

Auch Mia (Chloë Sevigny, „Big Love“) in „Hit & Miss“ (Sky Atlantic) fällt in die Kategorie phallische Frau: Eine Berufskillerin, die lautlos tötet. Mit einem, haha, kleinen Unterschied: sie ist wirklich phallisch. Denn Mia ist transsexuell, war früher ein Mann und ist es in einem entscheidenden Detail immer noch, wie wir gleich am Anfang der ersten Folge ausführlich sehen.

Wäre „Hit & Miss“ auf Quentin Tarantinos Mist gewachsen, wer weiß, wie die Geschichte weitergehen würde — mit der ganzen schönen Angstlust, die phallische Frauen für gewöhnlich bei den männlichen Zuschauern erzeugen, wäre es natürlich im selben Moment vorbei, in dem ein Penis zwischen den Schenkeln einer Frau baumelt. Oder jedenfalls mit dem „Lust“-Teil der Angstlust.

Doch weil „Hit & Miss“ nicht von Tarantino ist, sondern von Paul Abbott, der auch „Shameless“ gemacht hat, ist die grundlegende Wendung eine ganz andere: Mia entdeckt zu Beginn der Serie, dass sie Vater des elfjährigen Ryan (Jorden Bennie) ist, der zusammen mit seinen älteren Geschwistern Levi (Reece Noi), Riley (Karla Crome) und Leonie (Roma Christensen), aber ohne Mutter (Krebs) auf einer heruntergewirtschafteten, verlotterten Farm in Yorkshire lebt — und übernimmt, eher gegen den Willen der verlausten Kinderbande, die Verantwortung für diese dysfunktionale Familie.

Eine kaputte Familie also, Paul Abbotts Lebensthema: „Hit & Miss is about family, sexual identity and killing“,wie Sky Atlantic schreibt. Es gibt einen väterlichen Freund (und Auftraggeber Mias), einen potentiellen Liebhaber, der in den ersten zwei Folgen aber kaum in Erscheinung getreten ist, und einen missgünstigen Nachbarn (Vincent Regan), mit dem die älteste Schwester Riley zwar ein Verhältnis hat, dem Mia und die ganze Farm aber dennoch ein Dorn im Auge ist, den er am liebsten sofort loswäre. Leider kann Mia ihn nicht einfach umbringen; zu unklug wäre es, direkt vor die eigene Tür zu scheißen.

Man ist sprachlos zunächst, als Zuschauer, weil man so gar nicht weiß, in welche Richtung sich die sechsteilige Serie entwickeln wird: die Action, das berufsmäßige Töten, steht nicht im Vordergrund, ist aber eine stets präsente Option, was dem Familiendrama, das sich stattdessen zum zentralen Handlungsthema entwickelt, etwas latent Explosives verleiht: Immer kann auch alles in die Luft fliegen, immer besteht die Möglichkeit, dass jemand auf der Strecke bleibt — aber wenn trifft es? Oft stehen Szenen von erstaunlich unterschiedlicher Tonalität nebeneinander: im einen Moment verstörender Selbsthass der Protagonistin oder extrem unangenehme Konfrontationen (etwa wenn der Sohn Mia in der Badewanne überrascht und anschließend offensichtlich von der Situation überfordert ist), im anderen das Familienglück der Unterschicht, das „Shameless“ (zumindest in den ersten Staffeln) so sehenswert machte.

Aber Sprachlosigkeit ist ja nichts schlechtes, solange sie von Neugier begleitet ist. Die Neugier bleibt, denn nach der zweiten Episode ist immerhin das klar: von den (Film-)Klischees Tarantinos (die ich gar nicht kritisieren will, denn genau um solche geht es Tarantino ja) könnte „Hit & Miss“ nicht weiter entfernt sein. Eine Transsexuelle in einer gebrochenen, aber doch überwiegend als stark gezeichneten Rolle: das ist eine phantastische Idee; ein Berufskiller mit größten Problemen, was seine sexuelle Identität angeht, in einem nordenglischen Familiendrama: diese Idee ist so far out, dass ich (vielleicht nicht im wörtlichen Sinne, aber im übertragenen) mit offenem Mund vor dem Fernseher saß und dachte: Wow, so mutig muss man erst mal sein. Hut ab, Sky Atlantic!