2014 wisch und weg

Charlie Brooker hat es wieder getan: 2014 ausgelöscht, weggewischt, dahingefegt. Der kurzeweiligste Jahresrückblick in voller Länge: hier.

Meine Lieblingsstellen: die „Stomp“-Version der Kiew-Berichterstattung, die Reprise dazu in dem Stück zum Gipfeltreffen zwischen James Corden und Gary Barlow, und ein längerer Beitrag von Dokumentarfilmer Adam Curtis, der hübsch darüber reflektiert, wie man als Medienkonsument mittlerweile gar nichts mehr glauben kann und will, weil das Empfinden übermächtig wird, mittlerweile sei die Verwirrung, die sich widersprechende Medienberichte auslösen, geradezu beabsichtigt und Teil einer professionellen Inszenierung. Mit dem Ergebnis, dass man den größten Irrsinn achselzuckend hinnimmt, weil man sich keine Meinung mehr bilden kann außer: o je. Großes Fernsehen, das.

Das Buch zur Sitcom

23. Dezember 2014 Keine Kommentare

In der heute erscheinenden Titanic findet sich in der Humorkritik noch ein Tipp für ein schnell besorgtes letztes Weihnachtsgeschenk: „Funny Girl“ alias „Miss Blackpool“, den neuen Roman von Nick Hornby.

Was erwarten wir uns von einer Sitcom? In der Regel doch das: eine Handvoll Figuren, die sich bei ihrem Streben nach Glück selbst im Weg stehen. Geschichten von Aufbruch und Suche, von der Anpassung an neue Situationen, von errungenen Trophäen und dem Preis, der für sie bezahlt werden muss. Mit ein bisschen Glück tauchen wir auch noch in ungewöhnliche Milieus ein, haben mehr zu lachen, als wir erwarteten, und erkennen eine zugrundeliegende These bzw. ein Motiv, über das man aber nicht allzu lange nachdenken muss. Leichte Unterhaltung eben.

Mehr nicht, aber auch nicht weniger, will Nick Hornby mit all seinen Romanen. In seinem jüngsten, dem bei KiWi erschienenen »Miss Blackpool« (Originaltitel: »Funny Girl«), macht er das light entertainment selbst zum Sujet. Denn »Miss Blackpool« erzählt vom goldenen Zeitalter der britischen leichten Unterhaltung, der Fernsehsitcom der mittleren sechziger bis Mitte der siebziger Jahre. Der Zeit also, als noch die ganze Familie zusammen vor dem Fernsehgerät saß und das, was man am Vorabend gesehen hatte, am nächsten Tag themenbestimmend war; der Zeit, da es keine große Auswahl an Sendern gab und alle das Gleiche gesehen hatten.

Hornbys Protagonistin heißt Barbara, gewinnt zu Beginn der Handlung den Titel »Miss Blackpool«, gibt ihn aber umstandslos zurück, als sie feststellt, dass damit repräsentative Aufgaben verbunden sind. Lieber sagt sie ihrer Familie adieu und fährt nach London, nennt sich Sophie Straw und wird zum Star einer neuen BBC-Sitcom, in der sie, haha: Barbara heißt und aus Blackpool kommt. »Barbara (and Jim)« wird ein Triumph: Die beiden Autoren Tony und Bill treffen mit ihrer Geschichte um eine moderne Ehe zwischen einer Konservativen aus dem Norden und einem Mitarbeiter von Downing Street Nr. 10 unter dem Labour-Premier Harold Wilson genau ins Schwarze. Allerdings nicht bei jedem: Die Bartkrauler und Pfeifenraucher aus dem dritten Programm, deren Sendungen etwa »Sartre, Stockhausen und der Tod der Seele« heißen, goutieren diese eher flache Form des Amüsements gar nicht. Und auch die beiden Autoren stellen nach zwei erfolgreichen Staffeln fest, dass sie Unterschiedliches wollen: Während Tony zufrieden wäre, sein Leben möglichst ungestört weiterzuführen, fühlt sich Bill zu Höherem berufen, will Literatur und Theater machen und lieber Kunst für ein paar tausend Menschen als Unterhaltung für Millionen.

Weil sich Hornby in diesem Milieu auskennt und ein solider Handwerker ist, stimmt bei »Miss Blackpool« vieles: Es tauchen schöne Schauspieler auf, deren Wille zur Mitsprache Autoren und Produzenten in den Wahnsinn treibt, Senderverantwortliche, die ein gutes Drehbuch nicht von einem Teller Grütze unterscheiden können, und junge Magazinjournalistinnen, die Comedy über die falschen Entscheidungen beim Klamotteneinkauf machen wollen. Hornby streut etliche reale Figuren in seine Version des Swinging London ein, etwa Tom Sloan, den langjährigen Head of Light Entertainment der BBC, Lucille Ball und Keith Relf von den Yardbirds und reale Sitcoms wie »Till Death Us Do Part«, das ab 1966 zur erfolgreichsten jungen Comedy wird und im Buch den Ruhm von »Barbara (and Jim)« schnell verblassen lässt.

Das liest sich zügig weg, so wie sich eine halbstündige Sitcom weggucken lässt. Einzig ein strukturelles Problem bleibt: Während in einer Sitcom die Figuren nicht allzuviel dazulernen dürfen, weil sie am Ende einer Folge stets wieder bei der Ausgangssituation ankommen müssen, erwarten wir von Spielfilmen und Romanen, dass die Hauptfiguren reifen, wachsen, am Ende andere sind als zu Beginn. Das tut Barbara bei Hornby eher nicht. Und dass Hornby über lange Strecken seine Protagonistin verlässt, um die Geschichte der Autoren Tony und Bill zu erzählen, leuchtet zwar ein, weil sich an ihnen eben die unterschiedlichen Haltungen zum light entertainment schön veranschaulichen lassen; die Geschlossenheit der Erzählung aber stört es doch ein wenig.

So bleibt »Miss Blackpool« ein vergnügliches Buch, das die bunten sechziger Jahre in London treffgenau porträtiert. Ein Buch aber auch, über das man nach der letzten Seite nicht allzu lange nachdenken muss. Und mehr will es wohl auch nicht sein.

Zuerst erschienen in Titanic 1/2015.

Jahresendabstimmung – die Auswertung

22. Dezember 2014 3 Kommentare

Unter den ersten drei Britcoms zwei amerikanische Serien (oder zumindest Coproduktionen), das hat es auch noch nicht gegeben. Ich meine allerdings, dass das mehr damit zu tun hat, dass „You’re the Worst“ und „Episodes“ sehr gut waren, und weniger damit, dass der Rest so schwach war.

Dass sich mein persönlicher Geschmack mit dem der Leser/Wähler so deckt, finde ich sehr erfreulich, ich würde den meisten Platzierungen auch zustimmen — bis auf „Mr. Sloane“, den ich auf dem 10. Platz überraschend weit abgeschlagen finde. Zu bieder in der Anmutung vielleicht? Zu britisch in der Haltung?

„Plebs“ vom zweiten Platz 2013 auf Rang acht abgerutscht: leider zu Recht, die zweite Staffel war schwächer als die erste — nicht sehr viel schwächer, aber doch spürbar.

Dass mit „Derek“ eine Sitcom von und mit Ricky Gervais einmal so marginalisiert würde (eine Stimme! EINE!), hätte noch vor ein paar Jahren vermutlich auch niemand vorhergesehen. Ich kann mir genaugenommen keine Meinung leisten, weil ich bis auf den Piloten und eine Folge der ersten Staffel (glaube ich), gar nichts davon gesehen habe. Aber mein educated guess wäre: das hat schon seine Berechtigung.

Graham Linehan, sonst immer etwa mit „The IT Crowd“ gut im Rennen, ist nach einem dritten Platz im letzten Jahr mit „Count Arthur Strong“ dieses Jahr nur noch sehr unprominent mit „The Walshes“ unterwegs — vielleicht ist der walisische Humor schwächer als der englische und irische („Father Ted“).

„Sherlock“ auf Platz eins der Dramaserien überrascht mich nicht im Geringsten; „Happy Valley“ auf Platz zwei (mit allerdings nur halb so vielen Stimmen wie „Sherlock“) freut mich, weil es da zu Recht gelandet ist. „The Driver“ hat womöglich einfach nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die der Miniserie zustünde, die nämlich besser ist als ein vorletzter Platz.

Dass mit „Fargo“ die komischste der amerikanischen Dramaserien noch knapp vor dem sehr guten, aber vollkommen humorfreien „True Detective“ ins Ziel gekommen ist, ist einem Blog, in dem es vorwiegend um Komisches geht, völlig angemessen — auch ich hätte genau so gestimmt. Interessant, dass genau diese beiden Serien auch so abräumen — „Orange is the New Black“ hat zwar immer noch halb so viele Stimmen wie „Fargo“, aber alles danach fällt schon rapide ab.

Wie jedes Jahr ist es schade, dass die Weihnachts-Specials aus diesem Poll rausfallen; „The Wrong Mans“ z.B. werden ja mit einem Zweiteiler á eine Stunde noch einmal von der Länge her beachtlich nachlegen. Ansonsten wird man von James Corden im fiktionalen Zusammenhang vermutlich im nächsten Jahr nicht mehr so viel sehen, tritt er doch demnächst die Nachfolge von Craig Ferguson als Host der „Late Late Show“ auf CBS an. Was mich einigermaßen verblüfft hat, denn als Stand up-Comedian und Moderator hatte ich ihn gar nicht so auf dem Zettel.

Und um noch ein Weihnachts-Special ist es schade, dass es nicht im Poll war: Charlie Brookers „Black Mirror“-Special mit Jon Hamm ist wieder einmal sehr schön geworden. Dafür einen Sonderpreis!

Und damit jetzt schon mal frohes Fest und guten Rutsch allen Lesern!

Jahresendabstimmung

15. Dezember 2014 5 Kommentare

Ich war dieses Jahr mehr mit Dramaserien beschäftigt als mit Sitcoms, stelle ich fest: Über den Sommer habe ich endlich „The Wire“ (HBO, 2002 – 08) nachgeholt und bin pünktlich fertig geworden, als eine Neufassung der Serie bekannt gegeben wurde, diesmal in 16:9 statt 4:3 und in HD. Na toll. Danach ging es mit „The Shield“ (FX, 2002 – 08) weiter, und dazwischen waren noch allerhand aktuelle Serien wegzuglotzen, so dass die reinen Brit- und Sitcoms dafür ein bisschen zu kurz gekommen sind.

Es waren allerdings auch außergewöhnlich viele zweite und dritte Staffeln dabei dieses Jahr und weniger neue Produktionen: von den 27 Britcoms sind 15 Fortsetzungen. Dass die Abstimmungsliste länger ist als 27, liegt daran, dass ich „You’re the Worst“ (FX) einfach den Briten zugeschlagen habe, obwohl es natürlich in Wahrheit eine US-Sitcom ist, und daran, dass ich die paar ComedyDramas aus Großbritannien nicht in eine eigene Abstimmung werfen, aber auch nicht ganz unter den Tisch fallen lassen wollte. Bei „Inside No. 9“ etwa kann man sich ohnehin streiten, was das nun genau ist: Sitcom oder ComedyDrama.

Weil aber für mein Empfinden sehr viele sehr gute amerikanische und britische Drama-Serien dieses Jahr gelaufen sind, gibt es zum ersten Mal eigene Abstimmungen dafür. Beide haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, weil ja doch zu vieles unter meinem Radar fliegt und auch meine Zeit begrenzt ist, aber ich hoffe, die besten Serien sind doch darunter. Ach ja, und weil das mein Blog ist, in dem ich machen kann, was ich will, habe ich bei den US-Dramaserien „Game of Thrones“ und „The Walking Dead“ weggelassen — dass die sonst auf Platz eins und zwei gelandet wären, ist mir ohnehin klar.

Nun denn, zur Abstimmung. Alle Polls schließen am nächsten Sonntag um Mitternacht. Beim ersten Poll zur besten britischen Sitcom 2014 hat jeder drei Stimmen, und ich bitte um Hinweise auf evtl. fehlende Sitcoms:

Beste Britcom 2014

  • You're the Worst (US) (12%, 25 Votes)
  • Detectorists (11%, 24 Votes)
  • Episodes (UK/US, Series 3) (10%, 21 Votes)
  • Uncle (8%, 18 Votes)
  • Moone Boy (Series 2) (7%, 16 Votes)
  • Scrotal Recall (7%, 15 Votes)
  • W1A (6%, 13 Votes)
  • Plebs (Series 2) (5%, 11 Votes)
  • Cuckoo (Series 2) (5%, 10 Votes)
  • Mr. Sloane (4%, 9 Votes)
  • Toast of London (Series 2) (3%, 7 Votes)
  • Siblings (3%, 7 Votes)
  • Rev (Series 3) (3%, 7 Votes)
  • Friday Night Dinner (Series 3) (3%, 6 Votes)
  • The Trip to Italy (2%, 5 Votes)
  • Outnumbered (Series 5) (1%, 3 Votes)
  • Inside No. 9 (ComedyDrama) (1%, 3 Votes)
  • Babylon (ComedyDrama) (1%, 3 Votes)
  • Him & Her (Series 4) (1%, 2 Votes)
  • House of Fools (1%, 2 Votes)
  • The Mimic (Series 2) (1%, 2 Votes)
  • The Walshes (0%, 1 Votes)
  • The Life of Rock with Brian Pern (0%, 1 Votes)
  • The Job Lot (Series 2) (0%, 1 Votes)
  • Stella (Series 3) (ComedyDrama) (0%, 1 Votes)
  • Bluestone 42 (Series 2) (0%, 1 Votes)
  • Derek (Series 2) (0%, 1 Votes)
  • Edge of Heaven (ComedyDrama) (0%, 0 Votes)
  • Edge of Heaven (0%, 0 Votes)
  • Pramface (Series 2) (0%, 0 Votes)
  • Puppy Love (0%, 0 Votes)
  • Big School (Series 2) (0%, 0 Votes)

Total Voters: 97

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Bei den anderen beiden Abstimmungen hat jeder zwei Stimmen (und mir ist klar, dass einige gute Serien fehlen werden):

Beste britische Dramaserie 2014

  • Sherlock (Series 3) (31%, 31 Votes)
  • Happy Valley (17%, 17 Votes)
  • Downton Abbey (Series 5) (11%, 11 Votes)
  • The Fall (Series 1+2) (11%, 11 Votes)
  • In the Flesh (Series 2) (8%, 8 Votes)
  • Call the Midwife (Series 3) (7%, 7 Votes)
  • The Missing (7%, 7 Votes)
  • Our Zoo (4%, 4 Votes)
  • The Game (2%, 2 Votes)
  • The Driver (1%, 1 Votes)
  • Our Girl (0%, 0 Votes)

Total Voters: 67

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Bei den Wahlen zur besten US-Dramaserie sind, stelle ich gerade fest, nicht nur viele Serien nicht dabei, sondern auch eine eher apokryphe Show, nämlich „Z Nation“ (SyFy), eine postapokalyptische Zombieserie, die mir gerade mehr Spaß macht als „The Walking Dead“, weil es nämlich deutlich rabaukiger ist und hin und wieder schön die Grenze zum Quatsch streift, ohne sie zu übertreten, wenn es nämlich zum Beispiel bei einem Tornado fliegende Zombies gibt — und ein Protagonist dann auch gleich die Parallele zu „Sharknado“ zieht. Tounge in cheek nennt man das wohl.

Beste amerikanische Dramaserie 2014

  • Fargo (28%, 36 Votes)
  • True Detective (26%, 34 Votes)
  • Orange is the New Black (Series 2) (14%, 18 Votes)
  • Hannibal (Series 2) (6%, 8 Votes)
  • The Americans (Series 2) (5%, 6 Votes)
  • The Newsroom (Series 3) (5%, 6 Votes)
  • Masters of Sex (Series 2) (4%, 5 Votes)
  • Mad Men (Series 7) (4%, 5 Votes)
  • Homeland (Series 4) (4%, 5 Votes)
  • The Knick (2%, 3 Votes)
  • The Affair (2%, 2 Votes)
  • Z Nation (1%, 1 Votes)
  • From Dusk Till Dawn (0%, 0 Votes)
  • Extant (0%, 0 Votes)

Total Voters: 80

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Weihnachtszeit, Werbezeit

6. Dezember 2014 Keine Kommentare

Es gibt in Großbritannien eine moderne Tradition von besonders aufwändigen Fernsehwerbeclips zur Weihnachtszeit, die insbesondere von den großen Kaufhausketten geschaltet werden und bisweilen schon fast Kurzfilme sind — wie in diesem Fall der zweite Clip, der auch noch den (2014!) immer noch aktuellen Gedenkrummel zum 1. Weltkrieg thematisiert und die wahre Geschichte auf die Mattscheibe zaubert, wie englische und deutsche Truppen sich zur Weihnachtszeit aus ihren Schützengräben heraus näher gekommen sind und zusammen Weihnachten gefeiert haben. Wer da kein Tränchen verdrückt, dem ist nicht mehr zu helfen!

Aber erstmal der schöne Pinguin-Werbespot, und ja, ich weiß, es geht um Kaufhauswerbung. Böse, böse, dreimal böse! Aber auch schön.

Und hier der WW1-Spot, fast vier Minuten lang und in England während einer eigenen Werbeunterbrechung von „X Factor“ zu sehen gewesen:

Dan Owen hat in seinem Blog noch mehr davon plus eine Abstimmung, welcher am besten gefällt.

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Erzählen in der fünften Dimension

28. November 2014 Keine Kommentare

Zwei aktuelle Serien wagen erzählerische Experimente, die ich aus mehreren Gründen für gleichermaßen fruchtbar wie gefährlich halte: „The Missing“ (BBC1/Starz, gerade sind fünf von acht Folgen gelaufen) und „The Affair“ (Showtime, sieben von zehn Episoden waren schon zu sehen).

Beide Serien arbeiten nämlich mit unterschiedlichen Ebenen, auf denen erzählt wird: „The Missing“, angelehnt an die Ereignisse um das Verschwinden von Madeleine McCann 2007, erzählt eher konventionell auf zwei Zeitebenen abwechseln einmal vom Verschwinden des fünfjährigen Oliver Hughes während eines Urlaubs in Frankreich im Jahr 2006 und von den unmittelbar daran anschließenden Ereignissen, und zum anderen von Tony Hughes (James Nesbitt), Olivers Vater, der in der Gegenwart, also acht Jahre später, immer noch nach seinem Sohn sucht.

In „The Affair“ dagegen, von den Machern der brillanten Psychoanalyse-Serie „In Treatment“ (HBO 2008 – ’10), wird die gleiche Geschichte aus zwei verschiedenen Perspektiven erzählt (und auch hier gibt es eine zweite Zeitebene). Nämlich aus denen von Noah („The Wires“ Dominic West) und seiner Geliebten Alison („Orange is the New Blacks“ Ruth Wilson). Das heißt konkret: innerhalb der (fast) 60 Minuten einer Episode wird in der Regel in den ersten 30 Minuten eine Story aus Noahs Sicht erzählt, und dann die gleiche Story noch einmal, aber aus Sicht von Ruth — und zwar nicht selten mit deutlichen Unterschieden, meist eher kleinen (andere Kleidung, unterschiedliche Tageszeit, andere Außenwirkung einzelner Figuren), manchmal aber auch großen (es passiert etwas entscheidend Anderes).

Dieses Erzählmuster ist deutlich ungewöhnlicher als das von „The Missing“; so ungewöhnlich, dass die Macher es auch innerhalb der Serienlogik motivieren müssen (während „The Missing“ das nicht muss): Wir sehen nämlich sowohl Noah als auch Ruth bald getrennt von einander bei einer polizeilichen Einvernahme — sie erzählen den Hergang ihrer Affäre also einem Kommissar, was Mehreres bedeutet: zum einen sind die unterschiedlichen Erinnerungen womöglich tatsächlich einfach honest mistakes, wie sich zwei verschiedene Menschen eben an die gleichen Ereignisse unterschiedlich erinnern. Es ist aber auch möglich, dass beide eine eigene Agenda haben, sich anders darstellen wollen oder gar etwas verheimlichen — denn es geht ja nun offensichtlich nicht mehr nur um die Geschichte einer Affäre, sondern auch um einen Kriminalfall. Auch wenn man lange nicht erfährt, worum genau.

Dieser Kunstgriff ist durchaus fruchtbar: es hält einen als Zuschauer gefesselt, wie die selben Figuren in der Außenwirkung deutlich anders sind als in der Selbstdarstellung. Zum Beispiel hält Noah sich in seinen Berichten für viel charmanter, als er in den Erzählungen von Ruth rüberkommt, während sie in seinem Gedächtnis verführerisch und bereit zu einem Flirt ist, während sie sich selbst eher als Aschenputtel, unattraktiv und traurig schildert.

Er ist aber auch sehr einengend, ein erzählerisches Korsett, das irgendwann zu drücken anfängt. 60-Minuten-Episoden sind sehr lange, und sobald man durchschaut hat, dass die zwei Protagonisten/Erzähler hin und wieder erratisch berichten, droht das Prinzip schnell, in seiner Dominanz langweilig zu werden. Darum tun die Macher Sarah Treem und Hagai Levi auch gut daran, die Struktur aufzubrechen und zu variieren: nicht nur wird dann einmal eine Geschichte in umgekehrter Reihenfolge erzählt (zuerst Ruth, dann Noah), sondern es wird auch eine einstundenlange Geschichte durcherzählt, nur dass der erste Teil Noah zur Hauptfigur hat und der zweite Teil Ruth.

Trotzdem wird sich noch erweisen, ob und wie sehr dieses Experiment ermüdet — spätestens bei der zweiten Staffel werden sich Treem und Levi etwas handfest Neues einfallen lassen müssen, sonst droht das Gleiche, das mir bei „In Treatment“ passiert ist: ich fand die erste Staffel fantastisch, war aber vom Erzählprinzip (das dort auf sehr viele Folgen pro Staffel hinauslief, die erste hatte 43) zu erschlagen, als dass ich die zweite durchgehalten hätte.

Davon abgesehen ist „The Affair“ allerdings überwiegend gut bis sehr gut: nicht nur spielen West und Wilson jeweils sehr gut (obwohl ich ihnen hin und wieder nicht abnehme, wie sehr sie voneinander angezogen sein sollen), auch darf West wieder gegen seinen alten „The Wire“-Widersacher John Doman antreten, der hier seinen stinkreichen Schwiegervater spielt. Dass das Hauptaugenmerk der Serie von der psychologischen Studie eines Familienvaters, der (wie er selbst sagt) ohne rechten Grund anfängt, im Urlaub seine Frau zu betrügen, und seiner Geliebten, die nicht über den Tod ihres Sohns hinwegkommt, weg gelenkt wird in Richtung eines Kriminalfalls, ist ebenfalls klug: denn das gibt der Serie erst die Spannung, die einen wirklich wissen lassen will, welche Folgen die Mesalliance von Ruth und Noah hat — juristisch wie familiär.

(Größter Schwachpunkt von „The Affair“ dürfte der grauenhafte Vorspann sein. Schlimmer ist nur das Jazzgedudel von „Homeland“. Warum legt Showtime offenbar Wert darauf, sich als Sender mit den furchtbarsten opening credits zu profilieren?!)

„The Missing“ hat andere Probleme (und einen tollen Vorspann): denn hier dürfen wir als Publikum zwar dabei zuschauen, wie ein Puzzle zusammengelegt wird, bei dem neue Puzzleteile in der Vergangenheit mit Teilen in der Gegenwart zusammengesetzt ein überraschend anderes Bild als erwartet ergeben. Aber durch die Informationen, die wir im Gegenwarts-Strang bekommen, geht auch ein Teil der Spannung auf der Ebene der Vergangenheit verloren. Wir wissen ja schon, dass Tony seinen Sohn 2006 nicht wiederfinden wird, dass sein Zerwürfnis mit einem französischen Polizisten 2006 nicht von Dauer sein wird, weil der ihm (obwohl mittlerweile im Ruhestand) in der Gegenwart wieder helfen wird, nach Oliver zu suchen, und dass Figuren, die 2006 in Lebensgefahr geraten, diese Situationen überleben werden, weil wir sie 2014 schon gesehen haben.

Das führt dazu, dass die Serie einerseits zwar emotional sehr dicht erzählt ist (Nesbitt ist großartig als verzweifelter Vater), hin und wieder aber durchhängt, weil wir dem suchenden Vater 2006 einfach zu weit voraus sind mit unserem Wissen. Oder besser gesagt: dass die Serie durchhing, denn mittlerweile haben Harry Williams und Jack Williams einen neuen Dreh gefunden, etwas Unerwartetes zu tun, indem sie das Prinzip zwar nicht brechen, aber doch verbiegen (wie, werde ich natürlich nicht verraten).

„The Missing“ besticht neben seiner anspruchsvollen Erzählweise durch seine Bilder: enorm düstere Locations (gedreht in Belgien), glaubwürdig gealterte Charaktere abhängig von der Zeitebene (offenbar war es den Machern wichtig, schon durch die Maske auf den ersten Blick klar zu machen, ob wir uns gerade im Jahr 2006 oder 2014 befinden) und ein heftiges Thema (Pädophilie und Kindsmissbrauch), das ohne Klischees und einfache Feindbilder erzählt wird.

Hoffentlich dürfen Williams und Williams diese Geschichte zuende erzählen, hoffentlich gibt es hier kein offenes Ende (das bei „The Affair“ schon abzusehen ist, weil eine zweite Staffel bereits in Auftrag gegeben worden ist) — diese Geschichte schreit einfach nach einem würdigen und erwartbar traurigen Ende. Denn anders als bei „Happy Valley“, das im Widerspruch zur abgeschlossenen Story fortgesetzt werden wird, gibt es hier nicht einmal eine Polizistenfigur, die auch in einem neuen Fall ermitteln könnte. Es gibt nur die zutiefst betroffenen Eltern, von denen ein Teil weitersuchen will, während das andere bereit wäre, mit der Vergangenheit abzuschließen. Und wie den Eltern geht es auch mir bei „The Missing“: lieber ein Ende mit Schrecken als ein offenes Ende ohne closure.

Beide Serien aber verschieben schön die Grenzen des Erzählens, wie man sie aus dem Gros der Serien kennt, die sich an erprobte lineare Erzählgesetze halten. Während „The Affair“ dafür eine inhärente Begründung mitliefert, kommt „The Missing“ bislang ohne äußeren Grund für seinen ungewöhnlichen Ansatz aus. Beide Serien aber profitieren von ihrer Bereitschaft zum Experiment — und sind also wieder einmal schöne Beispiele dafür, dass es noch innovative Fernsehformate gibt, dass das Medium Fernsehen das momentan sich am schnellsten entwickelnde ist, und wie viel Spaß Formate machen können, die ihre Zuschauer im Zweifel lieber über- als unterfordern.