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Von der Geschlechterrolle

6. Juni 2012 4 Kommentare

Phallische Frauen (in Film & Fernsehen) sind ein Klischee, das sich Männer für Männer ausgedacht haben. Da gibt es das kleine Mädchen mit der großen Kanone (Natalie Portman alias Mathilda in Luc Bessons „Léon – Der Profi“), das von einem viel älteren Mann in eine Welt der Waffen und des Tötens eingeführt wird. „G.I. Jane“ (Demi Moore im gleichnamigen Film von Ridley Scott), die in einem Militärverherrlichungsfilm wie aus der Werbeabteilung der U.S. Army zum besseren Soldaten wird. Und es gibt die ungezählten phallischen Frauen Quentin Tarantinos: Allen voran die rachebeseelte Braut in „Kill Bill“ (Uma Thurman), die den Gender-Spieß umdreht und mit einem richtig langen, scharfen Samuraischwert in Männer eindringt, dass es nur so spritzt. Die ebenfalls von Revanche besessenen Flintenweiber in „Death Proof“, Stuntfrauen ihres Zeichens, die mit einem sehr männlichen Instrument töten, nämlich mit dem Auto. Die Frauen in von Tarantino geschriebenen Nebenrollen, die mit Pflöcken (!) auf Männerjagd gehen (Juliette Lewis als Kate Fuller in Robert Rodriguez‘ „From Dusk Till Dawn“) oder mit ihren Männern zu einem Ausflug mit Todesfolge (für viele andere) aufbrechen (abermals Juliette Lewis, hier als Mallory Knox in Oliver Stones „Natural Born Killers“).

Auch Mia (Chloë Sevigny, „Big Love“) in „Hit & Miss“ (Sky Atlantic) fällt in die Kategorie phallische Frau: Eine Berufskillerin, die lautlos tötet. Mit einem, haha, kleinen Unterschied: sie ist wirklich phallisch. Denn Mia ist transsexuell, war früher ein Mann und ist es in einem entscheidenden Detail immer noch, wie wir gleich am Anfang der ersten Folge ausführlich sehen.

Wäre „Hit & Miss“ auf Quentin Tarantinos Mist gewachsen, wer weiß, wie die Geschichte weitergehen würde — mit der ganzen schönen Angstlust, die phallische Frauen für gewöhnlich bei den männlichen Zuschauern erzeugen, wäre es natürlich im selben Moment vorbei, in dem ein Penis zwischen den Schenkeln einer Frau baumelt. Oder jedenfalls mit dem „Lust“-Teil der Angstlust.

Doch weil „Hit & Miss“ nicht von Tarantino ist, sondern von Paul Abbott, der auch „Shameless“ gemacht hat, ist die grundlegende Wendung eine ganz andere: Mia entdeckt zu Beginn der Serie, dass sie Vater des elfjährigen Ryan (Jorden Bennie) ist, der zusammen mit seinen älteren Geschwistern Levi (Reece Noi), Riley (Karla Crome) und Leonie (Roma Christensen), aber ohne Mutter (Krebs) auf einer heruntergewirtschafteten, verlotterten Farm in Yorkshire lebt — und übernimmt, eher gegen den Willen der verlausten Kinderbande, die Verantwortung für diese dysfunktionale Familie.

Eine kaputte Familie also, Paul Abbotts Lebensthema: „Hit & Miss is about family, sexual identity and killing“,wie Sky Atlantic schreibt. Es gibt einen väterlichen Freund (und Auftraggeber Mias), einen potentiellen Liebhaber, der in den ersten zwei Folgen aber kaum in Erscheinung getreten ist, und einen missgünstigen Nachbarn (Vincent Regan), mit dem die älteste Schwester Riley zwar ein Verhältnis hat, dem Mia und die ganze Farm aber dennoch ein Dorn im Auge ist, den er am liebsten sofort loswäre. Leider kann Mia ihn nicht einfach umbringen; zu unklug wäre es, direkt vor die eigene Tür zu scheißen.

Man ist sprachlos zunächst, als Zuschauer, weil man so gar nicht weiß, in welche Richtung sich die sechsteilige Serie entwickeln wird: die Action, das berufsmäßige Töten, steht nicht im Vordergrund, ist aber eine stets präsente Option, was dem Familiendrama, das sich stattdessen zum zentralen Handlungsthema entwickelt, etwas latent Explosives verleiht: Immer kann auch alles in die Luft fliegen, immer besteht die Möglichkeit, dass jemand auf der Strecke bleibt — aber wenn trifft es? Oft stehen Szenen von erstaunlich unterschiedlicher Tonalität nebeneinander: im einen Moment verstörender Selbsthass der Protagonistin oder extrem unangenehme Konfrontationen (etwa wenn der Sohn Mia in der Badewanne überrascht und anschließend offensichtlich von der Situation überfordert ist), im anderen das Familienglück der Unterschicht, das „Shameless“ (zumindest in den ersten Staffeln) so sehenswert machte.

Aber Sprachlosigkeit ist ja nichts schlechtes, solange sie von Neugier begleitet ist. Die Neugier bleibt, denn nach der zweiten Episode ist immerhin das klar: von den (Film-)Klischees Tarantinos (die ich gar nicht kritisieren will, denn genau um solche geht es Tarantino ja) könnte „Hit & Miss“ nicht weiter entfernt sein. Eine Transsexuelle in einer gebrochenen, aber doch überwiegend als stark gezeichneten Rolle: das ist eine phantastische Idee; ein Berufskiller mit größten Problemen, was seine sexuelle Identität angeht, in einem nordenglischen Familiendrama: diese Idee ist so far out, dass ich (vielleicht nicht im wörtlichen Sinne, aber im übertragenen) mit offenem Mund vor dem Fernseher saß und dachte: Wow, so mutig muss man erst mal sein. Hut ab, Sky Atlantic!