Zum ersten Mal tot
Lange bevor der Bielefelder Autor Christian Schmidt das „Y.“ in seinem Namen adoptierte, wohnte er zusammen mit etlichen anderen Titanic-Redakteuren in einem großen Mehrparteienhaus im Frankfurter Nordend. Weil Christian gerade von einer seiner vielen ausgedehnten Reisen durch die ganze Welt zurückgekommen war, lud er etliche seiner Nachbarn zu sich ein, um sie mit alkoholischen Getränken zu bewirten und ihnen Fotos seiner jüngsten Abenteuer zu zeigen. Das war zu einer Zeit, als man selbst geschossene Fotos noch zu „Dias“ entwickeln lassen und sie anschließend mit einem „Projektor“ an die Wand werfen konnte.
Als der Diaabend begann, standen ungefähr fünf Kästen mit Dias bereit, und kaum war es Mitternacht, war auch schon der erste Kasten „durch“. Das lag daran, daß Christian für sein Leben gerne von den zahlreichen Eindrücken erzählte, die er auf seinen Reisen gewonnen hatte, und jedes einzelne Dia ausführlich und nicht unter fünf Minuten kommentierte und oft auch beschrieb — obwohl ja jeder sehen konnte, was das Bild zeigte. Berichte über Eisenbahnfahrten durch die Wüste Gobi, dieses Gefühl konnte einen als Zuhörer jedenfalls beschleichen, dauerten bisweilen nur unwesentlich kürzer als die Fahrt selbst. Und so fielen dem einen oder anderen Gast schon mal die Augen zu, bis Christian ihn wieder weckte, um auch den zweiten Tag seiner Reise zu schildern. Auf Gejammer und vorsichtige Hinweise, man müsse am nächsten Tag arbeiten oder wolle einfach ins Bett, reagierte Christian kurz angebunden: „Gleich! Gleich! Ich muß dir nur noch eins zeigen…“ Und, husch! war er zur Tür hinaus und kam mit einem Armvoll weiterer Diakästen zurück.
Das ging so lange, bis den Gästen, die es noch nicht geschafft hatten, unauffällig zu verschwinden, nichts mehr übrig blieb, als offen zu revoltieren: „Ich gehe jetzt heim“, verkündete der damalige Titanic-Layouter Heribert Lenz gegen halb drei Uhr nachts und stand auf. „Heribert! Nein, Heribert! Gleich, ja? Nur einen Moment!“ schrie Christian, sprang auf und zur Wohnzimmertür, drehte schnell den Schlüssel um und steckte ihn ein. Und fuhr dann fort, seinen derart eingesperrten Geiseln Dias zu zeigen, bis der Morgen graute.
Seine Zuhörer solcherart in Haft nehmen kann Christian heute leider nicht mehr, schließlich lebt er inzwischen in Peking, und er fotografiert auch gar nicht mehr mit Diafilmen. Dafür hat er nun ein Buch geschrieben, in dem er zwar nicht (wie in den letzten beiden) über seine Reisen und Erlebnisse in fremden Ländern erzählt, aber weiterhin über seinen liebsten Menschen: sich selbst. „Zum ersten Mal tot: Achtzehn Premieren“ heißt es und faßt alles zusammen, was man über Christian Y. Schmidt wissen muß: Wie er zum ersten Mal dagegen war, die erste Tracht Prügel kassierte, zum ersten Mal auf Droge war, zum ersten Mal arbeiten mußte, ratlos war, prominent oder Comedy-Söldner. Speziell diese Episode finde ich äußert lustig — vielleicht weil ich die handelnden Personen ganz gut kenne. Und die andere Episode rund um eine CD-Präsentation, die ein gewisser Frankfurter Impresario und Swami veranstaltete und die sensationell schief ging, gehört natürlich längst zum reichen Anekdotenschatz der Neuen Frankfurter Schule.
Ich bin übrigens bei der Diashow damals freiwillig geblieben, hätte also gar nicht eingesperrt werden müssen, und höre Christian noch heute gerne zu (die ersten fünf Stunden jedenfalls). Deswegen habe ich auch das Buch in einem Rutsch gelesen und dabei viel gelacht. Ob das bei anderen Menschen, die Christian nicht kennen, auch so ist, kann ich natürlich nicht beurteilen. Aber ich könnte es mir gut vorstellen. Mein Tip: Einfach ausprobieren.
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